Unter dem Eis
keine heile Kinderwelt, so wenig wie eine heile Erwachsenenwelt. Ein Mord markiert immer nur die Spitze des Eisbergs.
Judith Krieger wirkt außer Atem, als habe sie soeben einen Langstreckenlauf absolviert. Die ungekämmten Locken springen um ihr Gesicht wie elektrisiert. Sie nickt Manni zu, was wohl so viel heißen soll wie: »Großfahndung läuft.«
31 Augenpaare sehen Manni und seine Kollegin an und geben nichts preis. Wir sind Außerirdische für sie, denkt Manni. Unsere Welt ist diesen Teenagern so fremd wie uns die ihre. Warum also sollten sie sich uns anvertrauen? Und trotzdem müssen wir endlich irgendjemanden zum Reden bringen, in diese Schülerwelt eindringen, und zwar schnell, selbst wenn dabei nur herauskommt, dass wir den Täter hier vergebenssuchen und uns wieder auf Hagen Petermann und Frank Stadler konzentrieren müssen.
»Tim ist manchmal ein bisschen schwierig.« Die Stimme der Mathelehrerin Dolling durchbricht die unbehagliche Stille, die bislang die einzige Antwort auf Mannis Fragen und Appelle gewesen ist.
»Wie meinen Sie das?«
»Einerseits war Tim ein Einzelgänger. Andererseits brachte er manchmal extreme Unruhe in die Klasse. Neulich zum Beispiel hat er sich mit obszönen Geräuschen wichtig gemacht.«
Irgendjemand kichert. »Voll peinlich«, flüstert eine unidentifizierbare Mädchenstimme.
»Ein Hilferuf.« Judith Kriegers Stimme ist ein Peitschenschlag. Sie mustert Tims Lehrerin, als sei die persönlich für das verantwortlich, was mit Tim geschehen ist. »Kinder, die den Klassenclown spielen, tun das meist, weil sie verzweifelt sind. Ist Ihnen diese Idee nie gekommen?«
Jetzt nicht auch noch Zickenkrieg, denkt Manni und beginnt hastig eine neue Runde des alten Viele-Fragen-keine-Antworten-Spiels.
»Tut mir leid, ich vergesse mich«, sagt Judith Krieger heiser, als der Pausengong die Schüler schließlich auf den Hof getrieben hat. »Ich kann diese Gleichgültigkeit einfach nicht ertragen.«
Manni sieht aus dem Fenster. Auf dem Schulhof schmeißt sich der kleine Wichtigtuer Lukas Krone soeben an Viktor Petermann ran. Die beiden Jungs verziehen sich in eine Ecke und sehen sich um, wie um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgt. Lukas redet auf Viktor ein, wütend wirkt das, dann verabschiedet er sich mit einem Schlag auf Viktors Schulter und schlendert zurück zu seinen Klassenkameraden. Was zum Teufel …, denkt Manni, aber da trabt Viktor schon über den Hof zu einem Gebüsch am Rande des Schulhofs und verschwindet darin.
Manni sprintet los, ohne sich um Judith Kriegers Protest zu kümmern. Er erreicht das Gebüsch, bricht durch die Zweige. Ein Trampelpfad führt im Zickzackkurs über einen Hügel, verzweigt sich dort. Viktor ist wie vom Erdboden verschluckt.Hektisch blickt Manni sich um. Niemand hinter ihm, der eine Pfad führt tiefer ins Gebüsch, der andere in Richtung Fahrradhof. Nachdenken, Mann, was kann Viktor vorhaben? Was kann Lukas ihm gesagt haben? Etwas, was mit Tim zusammenhängt, mit dem, was Manni oder Judith gesagt haben. Manni könnte schwören, dass das so ist. Er entscheidet sich für den Pfad, der zum Fahrradhof führt, bleibt mit dem Fuß in einem Kaninchenloch hängen, kann sich gerade noch abfangen. Sein Herz pumpt hart in Reaktion auf den Schreck. Nichts passiert, er hastet weiter. Gut, dass er noch nicht völlig aus dem Training ist.
Kurz vor dem Fahrradhof verlangsamt er sein Tempo. Ein Streifenwagen parkt dort, Judith Kriegers Verstärkung wahrscheinlich. Leer, von den Kollegen ist nichts zu sehen, wie immer, wenn man sie braucht. Da, eine Bewegung am Ende des Hofs. Ein hellblonder Haarschopf - Viktor, der immer wieder über die Schulter sieht und gerade im Begriff ist, sich auf ein Mountainbike zu schwingen. Manni unterdrückt einen Fluch, der Junge nimmt Tempo auf. Manni joggt über den Parkplatz. Solange er Viktor nicht aus den Augen verliert, hat er eine Chance. Er beschleunigt seine Schritte, nutzt, so gut es geht, die Fassaden als Deckung. Doch zum Glück scheint sich Viktor nun, da er die Schule hinter sich gelassen hat, sicherer zu fühlen. Er sieht sich nicht mehr so häufig um, tritt stattdessen immer schneller in die Pedale.
Fünf Minuten später ist Manni schweißgebadet und nur mit Hilfe seiner jahrelang perfektionierten Atemtricks kann er das beginnende Seitenstechen unterdrücken. Joggen ist eine Sache, ein Dauersprint in für die Temperatur ohnehin viel zu warmen Straßenklamotten eine andere. Noch einmal beschleunigt er
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