Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Eis

Unter dem Eis

Titel: Unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
Vom Netzwerk:
gerade gewollt?«
    »Frag ihn doch selber.«
    »Wo ist Tim?«
    Die blutunterlaufenen Kifferaugen glänzen vor Feindseligkeit. »Keine Ahnung, Mann.«
    Zerschnittene Fische, das geschwärzte Bild. Tims Fahrrad, das jemand weggeworfen hat wie Müll. Ist Tim tot oder können sie ihn noch retten? Sie sind so dicht dran und trotzdem einmal mehr darauf angewiesen, einen verstockten Mitmenschen zum Reden zu bringen. Manni will den Jungen vor sich schütteln, will seine verdammte Überheblichkeit aus ihm herausprügeln, so lange, bis Ralf Neisser um Gnade winselt und auspackt, was er weiß.
    Dann, wie ein Flashback, ist die Erinnerung an seinen Vater wieder da, seine Schläge und seine Verachtung für Mannis Beruf. Aber das ist nicht mehr wichtig, denkt Manni. Und es war niemals wichtig, weil es damals nichts mit mir zu tun hatte und jetzt nichts mit mir zu tun hat und schon gar nicht mit meiner Zukunft im KK 11 . Blut läuft an Mannis Schienbein herunter, erst jetzt merkt er das. Er ballt die Fäuste, verzieht das Gesicht, als der Schmerz durch seinen Körper schießt. Aber aus irgendeinem Grund kann er seinen Griff trotzdem nicht lockern. Steht einfach da, hält ihn aus und starrt auf den Jungen hinunter, der vielleicht ein zweifacher Mörder ist.
    »Ich krieg dich dran, Ralle«, sagt er. »Verlass dich drauf.«

    Das Café ist halbwegs passabel, das Mädchen Ivonne sitzt Judith gegenüber. Sie messen sich über großen Gläsern Mineralwasser und Latte macchiato mit Blicken und rauchen mit stummer Erbitterung. O nein, du rufst jetzt niemanden an und schon gar nicht deinen Freund, hat Judith auf dem Schulhof gesagt, als Manni im Gebüsch verschwand. Und dann hat sie Ivonne Rinker am Arm gepackt und in ihr Auto gezerrt. Judith zwingt sich, ruhig zu bleiben, obwohl genau genommen jede Sekunde Schweigen eine Sekunde zu viel ist, solange irgendwo ein verzweifelter Junge versucht, sich umzubringen, oder in der Gewalt eines Mörders ist.
    »Du hast Tim mal gern gehabt. Ihr habt euch vertraut. Dann bist du auf seine Schule gewechselt und wolltest nichts mehr von ihm wissen.«
    Ivonne betrachtet ihre Zigarette, deren Filter den glänzenden Abdruck ihres Lippenstifts trägt. Auch ihre Fingernägelglitzern. Kunstvoll gefeilte Nägel mit künstlich geweißten Halbmonden, wie aus dem Werbeprospekt eines Nagelstudios. Judiths Handy spielt Queen, sie hört die Aufregung in der Stimme des unbekannten Kollegen.
    »Wir haben vielleicht was im Königsforst. Jemand will Tim gesehen haben. Vor zwei Stunden. In Begleitung eines Mannes, in der Nähe des Anglerteichs.«
    »Bleibt dran«, sagt Judith, »ruft mich wieder an.« Sie legt das Handy vor sich auf den Tisch, sieht wieder das Mädchen an.
    »Es ist entsetzlich, wenn man außen vor steht. Es ist schlicht nicht zu ertragen«, sagt sie, ohne Ivonne aus den Augen zu lassen. »Das Gelächter. Die Witze. Das Getuschel. Man kann sich noch so oft sagen, dass einem das alles egal ist, es funktioniert nicht, stimmt’s?«
    »Woher soll ich das wissen?« In Ivonnes Augen glimmt Trotz.
    »Es zerstört einen, es macht einen kaputt.« Unbeeindruckt spricht Judith weiter. »Weil man anfängt zu glauben, dass die anderen Recht haben. Dass man wirklich jemand ist, über den alle lachen dürfen, den sie rumschubsen dürfen, wie es ihnen gefällt.«
    »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen!«
    »Warum willst du nichts mehr mit Tim zu tun haben?«
    Ablehnung in den Augen des Mädchens. Ich schaffe es nicht, ich erreiche sie nicht, denkt Judith. Dennoch spricht sie weiter, kann nicht aufgeben, diesmal nicht.
    »Ich sage dir, warum du nichts von deinem Cousin wissen willst: Weil du dir das nicht leisten kannst. Weil du um jeden einzelnen Tag gottverdammt froh bist, an dem sie dich in Ruhe lassen, dich vielleicht sogar bewundern. Weil keiner wissen darf, wie es dir an deiner alten Schule erging: nämlich kein bisschen anders als Tim.«
    »Sie lügen. Sie wissen überhaupt nichts über mich!«
    »Ich war mal genauso feige wie du. Ich hatte eine Freundin, Charlotte hieß sie, die haben die anderen Mädchen in der Schule nicht gemocht. Da hab ich mich auch von ihr abgewandt, damit sie mich in Ruhe ließen. Jetzt ist Charlotte tot.«
    Die schön manikürte Hand zittert. Ivonnes Augen verschleiern sich mit Tränen. »Ist Tim tot?«
    »Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall ist er in großer Gefahr und deshalb brauche ich deine Hilfe. Ich muss ihn finden.«
    Ivonne beginnt zu weinen. »Sie haben ihn fertiggemacht,

Weitere Kostenlose Bücher