Unter dem Eis
abgeholt, und mit einer gewaltigen Anstrengung ist es ihnen gelungen, eine Art Normalität zu spielen und den Kleinen weiszumachen, dass Jonny und Dr. D. einfach nur Ferien machen. Abendessen, rumtoben, baden, Gutenachtgeschichte, das übliche Ritual. Nie zuvor hat es so viel Kraft erfordert. Nie zuvor erschien es Martina so sinnlos. Und kaum waren die Kinder im Bett, kam dieser blonde Kommissar und stellte seine schrecklichen Fragen.
Frank sitzt am Küchentisch, reglos, starrt auf die Tischplatte, wo Tomatenketchup- und Schmierkäsereste kleben, beachtet sie nicht, antwortet ihr nicht, eingekapselt in seine eigene Welt. Wo ist Jonnys Taschenlampe? Da, auf der Fensterbank. Sie muss besser darauf aufpassen, wenigstens das muss sie schaffen, so schwer ist das doch nun wirklich nicht. Martina fühlt das Metall unter ihren Fingern, so vertraut ist jede kleine Erhebung, jede Rille, jeder Kratzer inzwischen,sie könnte diese Taschenlampe mittlerweile blind aus einem ganzen Sortiment ertasten. Jonny wäre davon bestimmt fasziniert. Meld dich bei »Wetten, dass …?«, Tini, das wär doch cool. Beinahe glaubt sie, seine Stimme zu hören.
»Frank, bitte, ich muss das wissen. Wo warst du am Samstagnachmittag? Was hast du gemacht?«
Jetzt sieht er sie an, mit blutunterlaufenen Augen, von ganz weit her.
»Du warst dabei, als ich dem Kommissar geantwortet habe. Reicht dir das nicht?«
»Im Wald, du warst im Wald. Allein im Wald. Aber warum?«
Er zuckt nicht einmal mit der Wimper, obwohl diese fremde Stimme, die offenbar ihre Stimme ist, die letzte Frage geschrien hat.
»Bitte, Martina, die Kinder schlafen.« Sachlich. Beherrscht.
»Die Kinder! Was kümmert dich das schon. Auf Jonny hast du schließlich auch nicht aufgepasst!«
Das war zu viel, das merkt sie sofort. Sie hat sich von seiner Ruhe provozieren lassen, die Worte sind aus ihr herausgeflogen, obwohl sie das nicht wollte, sie will sie zurücknehmen, einfach wieder einsaugen, weil sie nicht ertragen kann, wie Frank sie ansieht, der jetzt langsam aufsteht, gefährlich langsam, als stünde er unter Schock. Martina presst den Handrücken auf den Mund.
»Das ist es, was du denkst, ja? Dass es meine Schuld ist?«
Sie schüttelt den Kopf, links, rechts, links, rechts, wie eine irre gewordene Marionette.
»Vielleicht solltest du diesen Kommissar anrufen und ihm sagen, dass auch du, meine Frau, mir nicht glaubst. Vielleicht lässt du mich am besten gleich verhaften.«
»Nein, Frank, nein.« Immer noch bewegt sich ihr Kopf hin und her, sie kann das nicht stoppen und jetzt beginnt sie auch noch zu zittern. Ihre verdammten Worte, ihre verdammte Zunge, so viel schneller als ihr Hirn, so viele Verletzungen, so viele Wunden, sie kann es nicht ertragen, nicht das auch noch, ihr ist so kalt.
Und dann macht Frank einen Schritt auf sie zu, eine Bewegung wie ein Taumeln. Im nächsten Moment fühlt sie seine Arme um sich und er hebt sie hoch und wankt zurück auf die Küchenbank, lässt sich darauf niedersinken, lässt Martina dabei nicht los und sie krümmt sich zu einem Bündel auf seinem Schoß. Sie kriecht in seine Wärme, flüchtet sich in seine Umarmung, und er presst sein Gesicht in ihr Haar, ihr Mann, ihr geliebter Mann, der weiß, wie es in ihr aussieht, der sie versteht, der ihr verzeiht, und sie weint all die Tränen in seine Schulter, die sie in den letzten Stunden zurückhalten musste, wegen der Kinder. Und für einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, schöpft sie aus dieser neu gefundenen Innigkeit so etwas wie Mut, und es erscheint vollkommen unmöglich, dass Jonny etwas geschehen ist und dass Frank, ihr wunderbarer, sanftmütiger, großherziger Mann, der Vater ihrer Kinder, damit etwas zu tun haben könnte. Weil sie ihn liebt.
Die Hitze des Tages steht noch in Judiths Wohnung. Sie füllt ein Glas mit Leitungswasser, dreht sich eine Zigarette und geht auf ihre Dachterrasse. Mauersegler schießen aus den Altbaufassaden der Kölner Südstadt in den blassvioletten Himmel, merkwürdig synchron, wie auf ein geheimes Kommando. Judith stützt die Ellbogen aufs Geländer, raucht und sieht ihnen zu. Im ersten Moment, als sie Bertholds SMS gelesen hat, war sie zu überrumpelt, um etwas zu empfinden. Dann kam die Wut über seine Anmaßung. Und im nächsten Augenblick hat sie sich auf Manni konzentriert. Seit Wochen schon hatte sie ihn treffen wollen, aber nie schien es der richtige Zeitpunkt zu sein, insofern war dieses unverhoffte Aufeinanderprallen ein Segen.
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