Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
»Naomi«, stieß sie hervor und ihr Gegenüber blickte verblüfft auf. »Ich verstehe kein Wort!« Oskar hob überrascht den Kopf und spitzte die Ohren. »Naomi!«
Sie spähte angestrengt in den schwarzen Wald, warf Anna einen mahnenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Wie von selbst schlossen sich Annas Finger um das kleine Messer. Oskar drängte sich an ihre Seite und grollte dumpf. Sein gesträubtes Nackenfell ließ sie erschaudern. Jetzt hörte sie es auch, ein Knacken im Unterholz. Eisregen jagte ihren Rücken hinunter. Irgendetwas war dort, näherte sich. Oskar hätte Alexander längst erkannt. Das Geräusch wurde lauter und der Boden vibrierte leicht. Das war keine Maus oder ein Eichhörnchen. Was sich dort im Dunkeln heranschlich, war groß … Naomi erhob sich mühsam und zog einen brennenden Stock aus dem Feuer. Anna starrte angestrengt in die Dunkelheit, doch was immer dort war, verschmolz mit dem Schwarz der Nacht. Mit bebenden Händen griff sie ebenfalls nach einem brennenden Ast und wartete. Naomi lehnte an einem Baum, nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen, die Fackel vor sich her schwenkend. Allmählich löste sich etwas Riesiges, Mächtiges aus dem Dunkel, und Anna stockte der Atem. Größer als ein Bär, kräftig und muskulös trat es in den Schein des Lagerfeuers. Langsam aber zielstrebig schlich ein riesiger Wolf auf sie zu. Sein Fell glänzte silbergrau, die saphirblauen, schrägen Augen funkelten wie tausend winzige Sterne auf nachtschwarzem Wasser. Wenn er nur nicht so fürchterlich groß wäre. Auch Anna wedelte mit der provisorischen Fackel, doch das gewaltige Tier ließ sich davon weder beeindrucken noch abschrecken. Oskars Nackenhaare standen inzwischen senkrecht. Die Beute im Visier näherte sich der graue Riese Schritt für Schritt. Gleich würde er zum Sprung ansetzen. Die Fackel in der einen Hand, das Messer in der anderen … Lächerlich, damit würde sie den Wolf nicht einmal kitzeln. Sie drängte sich näher an Alexanders schwarzen Hund. Wenn Oskar jetzt meinte, sie beschützen zu müssen, dann würde der Wolf angreifen. Anna hielt den Atem an, sie zersprang fast vor Angst, doch sie hielt sowohl Fackel als auch Messer fest in der Hand. Der Wolf hatte keine Eile, wusste, er war der Stärkere.
Senk den Blick. Sieh ihm nicht in die Augen. Es gelang ihr nicht. Sie konnte den Blick einfach nicht von den blauen Augen lösen. Nur noch wenige Meter. Der silbergraue Riese legte den Kopf in den Nacken, riss das gewaltige Maul auf und ließ ein markerschütterndes Heulen ertönen. Vor Schreck entglitt ihr die Fackel. Oskars Muskeln zuckten, doch bevor der Hund angreifen konnte, kam von links etwas Helles, Leuchtendes angeflogen. Anna wirbelte herum und traute ihren Augen kaum. Faustgroße Feuerkugeln wuchsen in Naomis Händen. Eine nach der anderen ließ sie geschickt hervorschnellen und schleuderte sie dem Ungetüm entgegen. Konzentriert formte sie Ball um Ball, gleißende Feuerschweife flogen an dem Wolf vorbei und verloschen im Unterholz. Das Heulen verstummte, das Tier duckte sich. Allmählich schwankte Naomi bedenklich, als mit einem Mal das Feuer auch aus dem Dickicht geschossen kam. Mit dem Boden verwachsen, vor Schreck wie gelähmt, beobachtete Anna die fliegenden Flammen mit wachsendem Unglauben. Das Herz hämmerte unangenehm in ihrer Brust. Die Augen des Wolfs leuchteten blutrot auf und er stieß ein weiteres schauriges Heulen aus, bevor er im Unterholz verschwand. Ein leichter Schwefelgeruch hing in der Luft, als die Feuerkugeln verloschen. Naomi lag zusammengerollt auf dem Boden und bebte. Mit einem Satz war Anna an ihrer Seite, endlich fähig, sich aus der Starre zu lösen.
»Was zum Teufel … Naomi.« Das Zittern verstärkte sich. Anna sank neben sie und ergriff ihre Hand, als etwas sacht ihre Schulter berührte. Sie fuhr zusammen und sah sich einer Frau mit kurzen blonden Haaren gegenüber, die sie sanft zur Seite schob und sich hinter Naomi kniete. Liebevoll strich sie ihr die verschwitzten Haare aus der Stirn, bettete den Kopf in ihren Schoß und drehte sich zu Anna um.
»Ich mache das schon, Anna. Danke.«
Anna erhob sich schwerfällig. Sie wunderte sich inzwischen über nichts mehr. Nur zu gern ließ sie sich von dieser fremden Frau das Zepter aus der Hand nehmen. Drei Pferde lösten sich aus dem Dunkel der Nacht. »Alexander!« Die Überraschung gab ihr neue Kraft, und mit wenigen Schritten war sie bei ihm, zog ihn aus dem Sattel und umarmte ihn stürmisch.
Weitere Kostenlose Bücher