Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
erlauben, sie zu führen. Wahrscheinlich hofft sie immer noch, dass sie irgendwann aufwacht und der Traum vorüber ist.«
Anna wich Erins Blick aus und ersparte sich den Hinweis, dass sie niemandem erlaubte, sie zu führen, keiner magischen Gestalt und auch sonst keinem.
»Ihr hattet Glück«, fuhr Erin fort. »Nicht jedem gelingt das Überschreiten der Grenze zwischen unserer und eurer Welt. Viele überleben es nicht. Und deshalb, Anna, wirst du auch eine Weile bei uns bleiben müssen, denn ein erneuter Grenzübertritt würde dir jetzt nicht gelingen. Du bist zu geschwächt dafür, glaub mir.«
Annas Magen sackte in die Kniekehlen. »Wie lange?«, brachte sie tonlos hervor.
»Ich weiß es nicht, Anna. Einige Wochen sicherlich. Es tut mir leid. Wirklich.«
Wochen! Das ging nicht. Sie konnte nicht einfach so verschwinden, alles zurücklassen. Zwar wollte sie die kleine Stadt verlassen, dem Sonneneck den Rücken kehren, doch nicht auf diese Art. Sie wollte in Ruhe darüber nachdenken, wie ihr Leben weitergehen sollte. Wenn auch ihre Eltern nicht auf sie warteten, so gab es doch einige, die beginnen würden sich zu sorgen und vielleicht bereits nach ihr suchten. So wie Peter. Wochen … »Und wenn ich es doch versuche?«, fragte sie leise.
»Das würdest du nicht überleben, Anna«, erwiderte Naomi. Sachlich und glasklar hing die Antwort in der Luft.
Anna erhob sich langsam und entfernte sich von dem Feuer und ihren Begleitern. Sie lief auf eine mächtige Eiche zu und lehnte sich an den rauen Stamm. Wochen … sie verstand sich nicht. Warum erschreckte sie das so? War sie nicht seit Monaten unzufrieden, versuchte, eine Entscheidung zu treffen? Sie wollte den Laden schließen, ein neues Ziel finden. Doch kaum hatte sie ihr Zuhause verlassen, sehnte sie sich schon wieder dahin zurück. Wonach eigentlich? Nach ihrem kleinen Zimmer, den grauen Ruinen, dem Hunger, den Erinnerungen an ihre Eltern? Peter? Nein, das war es nicht. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen. Schon wieder. Sie würde gern zur Abwechslung einmal selbst über ihr Leben entscheiden. Diesen verfluchten Krieg, die Bomben, die Zerstörung hatte sie sich nicht ausgesucht. Ebenso wenig, allein im Sonneneck zu leben, zu frieren und zu hungern. Sie schloss die Augen. Irgendwann hatte sie sich mit den Umständen abgefunden. Es war ihr gelungen, auch im Dunkeln ein Licht zu sehen. Niemals hatte sie sich kleinkriegen lassen. Sie war nicht glücklich, aber zufrieden gewesen. Bis die Unruhe in ihr wuchs, ihr Leben selbst zu gestalten. Und nun … Anna atmete tief durch. Nun würde sie wieder das Beste daraus machen und warten, bis sie kräftig genug war, um zurückzukehren. Dann würde sie weitersehen.
Anna öffnete die Augen und erschrak. Alexander stand neben ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er legte seine Hand sacht auf ihren Arm.
»Es tut mir so leid, Anna. Ich bringe dich zurück, das verspreche ich dir.«
Er griff zögernd nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Gemeinsam ließen sie sich vor dem Feuer nieder.
»Es ist ja nicht deine Schuld. Oder?« Fragend blickte sie Alexander an.
»Ich befürchte doch.« Naomi versuchte es mit einem aufmunternden Lächeln. »Es war eindeutig Alexander, der den Weg hierher gesucht hat, der Silvanubis gesehen hat. Dass du hier bist, ist ein Wink des Schicksals, sozusagen.« Sie sah Alexander nachdenklich an. »Wie war das genau, das Überschreiten der Grenze?«
Alexander schüttelte sich. Offensichtlich gefiel ihm die Erinnerung daran ganz und gar nicht. »Nun ja, Überschreiten würde ich das nicht nennen.« Er legte Oskar die Hand auf den Rücken. »Wir waren in diesem Wald unterwegs, als der Nebel kam. Ich habe Oskar an die Leine genommen, weil ich Angst hatte, ihn zu verlieren. Der Nebel wurde undurchdringlich. Wie ein langer Tunnel und es fiel schwer, zu atmen. Ab und zu habe ich das bunte Flimmern gesehen, die Pixie … Dann habe ich Anna gehört, ihr Keuchen. Sie schien kaum noch Luft zu bekommen. Ich habe sie gerufen. Sie konnte mich zwar hören, aber nicht verstehen.«
Naomi nickte eifrig. »Mein Vater erzählt uns manchmal von Menschen, die es geschafft haben, hierherzukommen. Das mit dem Nebel muss kurz vor der Grenzüberschreitung gewesen sein. Wie gesagt, du hattest eine Verbindung hierher, Alexander und Anna nicht. Nicht nur, dass ihr allein das Überschreiten der Grenze nicht gelungen wäre, ihr muss es auch viel schwerer gefallen sein, mit dem Nebel fertig zu werden. Mich
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