Unter dem Feuer - Silvanubis #1 (German Edition)
Wasser gefüllten Becher, »mein Bruder fiel schon im ersten Kriegsmonat.« Alexander hielt erneut inne und atmete tief durch. »Es hat Wochen, wenn nicht Monate gedauert, bis Mutter sich erlaubt hat, um ihn zu trauern. Und dann die ständige Sorge um meinen Vater. Nur ganz selten haben wir Nachricht in Form eines Briefes von ihm bekommen. Irgendwann ist die Trauer und Sorge meiner Mutter in Zorn umgeschlagen. Sie hat mich und meine Schwester mit ihrer Wut angesteckt. Nächtelang haben wir hinter verschlossenen Türen geflucht und geschimpft. Schließlich ist mein Vater heimgekehrt oder das, was von ihm übrig geblieben war. Er hatte ein Auge und eine Hand verloren, die linke, Glück im Unglück.«
Alexander lachte bitter und schloss die Augen. Seine Finger streiften ihre Hand, die immer noch auf seinem Oberschenkel ruhte, bevor er fortfuhr.
»Er war fürchterlich abgemagert, krank. Wie sehr sich Mutter auch um ihn gekümmert hat, er konnte sich nicht mehr richtig erholen. Einen Monat später ist er gestorben. Ich dachte, Mutter würde daran zerbrechen, doch sie hat mich überrascht. Nach der Beerdigung und ein paar Tagen Trauer krempelte sie die Ärmel hoch. Kummer, Zorn und Wut wurden zu Tatendrang und Risikobereitschaft. Vater hatte meiner Mutter vor seinem Tod davon berichtet, was er als Soldat erleben musste.«
Als Alexander unvermittelt nach Annas Hand griff, erwiderte sie seinen Druck. Sie konnte ihn gut verstehen, womit sie vermutlich die Einzige unter den Anwesenden war.
»Er hat Gewalt und Ungerechtigkeit mit ansehen müssen. Tod und Zerstörung erlebt. Am meisten hat ihn belastet, dass er wie viele andere keine Wahl gehabt hat. Keine Wahl, dem Krieg den Rücken zu kehren, ohne verfolgt und missbraucht zu werden. Ich weiß bis heute nicht, was er Mutter erzählt hat, doch was immer es war, es hat ihr die Kraft gegeben durchzuhalten, nicht aufzugeben. Das war der Zeitpunkt, als mir klar wurde, dass ich mit diesem Krieg nichts zu tun haben wollte. Es war nicht mein Kampf, mir hatte niemand etwas getan, warum sollte ich kämpfen, töten …? Wofür? Und so bin ich untergetaucht, von der Bildfläche verschwunden. Wie ein Zigeuner bin ich umhergezogen. Irgendwie ist es mir immer wieder gelungen, gute Seelen zu finden, bei denen ich unterkommen konnte. Mutter und meine Schwester Lisa waren somit leider auch gezwungen unser Haus zu verlassen, sich zu verstecken. Man hätte ihnen fürchterliche Schwierigkeiten gemacht, um zu erfahren, wo ich, ein Deserteur, zu finden war. Zum Glück wurden sie beide nie erwischt. Hin und wieder haben wir uns getroffen, doch nicht oft. Ich wollte sie nicht unnötig in Gefahr bringen.«
Alexander griff zur Gitarre und ließ seine Finger erneut über die Saiten gleiten. »Sie hat mich ständig begleitet. Immer, wenn ich meinte, es ging nicht mehr weiter, wenn ich nicht wusste, wo in aller Welt es noch sicher war, mich zu verstecken, hat mir die Musik Trost gespendet.«
Seine Finger schienen sich selbstständig zu machen. Sicher trafen sie jeden Ton, trugen ihn davon. Alexanders Blick wanderte ins Leere. Anna zuckte unwillkürlich zusammen, als die Melodie verstummte.
»An der Gitarre war man nicht interessiert, als man mich schließlich doch fand. Ich wurde verhaftet, eingesperrt, verhört … Sie waren nicht gerade zimperlich.« Alexander legte die Gitarre vorsichtig zur Seite, zog sein Hemd über den Kopf und drehte sich um. Die zwei Narben waren unübersehbar. Anna hielt die Luft an, als hätte ihr jemand mit aller Macht eine Faust in den Magen gerammt.
»Stockhiebe«, bemerkte er knapp. Annas Finger auf seinem Bein wollten sich zu einer Faust schließen, entspannten sich jedoch im gleichen Moment wieder.
»Der Rest ist verheilt. Ich hatte Glück, unverschämtes Glück. Am Tag vor meiner Hinrichtung war der Krieg zu Ende.«
Alexander legte seine Hand auf Annas und holte tief Luft. »Wie durch ein Wunder standen sowohl Haus als auch Werkstatt noch, als ich heimkehrte, und Mutter und Lisa erwarteten mich.«
Anna zog ihre Hand zurück und rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste, wie vielen es schlecht gegangen war, aber erst jetzt verstand sie wirklich, dass sie nicht allein war mit ihrer Trauer und dem Zorn. Anna sah Alexander von der Seite an. Es ging immer irgendwie weiter, er würde es genauso schaffen wie sie.
»Seitdem schlagen wir uns mehr schlecht als recht durch. Niemand hat im Moment Geld, um irgendwas in einer Schreinerei in Auftrag zu geben. Ehrlich
Weitere Kostenlose Bücher