Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
müssen.
Ich betrachtete den unzufriedenen Weiberhaufen. Eigentlich könnte sich jede endlich beim vollmundigen Roten zurücklehnen und sich freuen, dass sie es bis hierher ohne größere Blessuren geschafft hat: Kinder gekriegt, Karriere gemacht, Männer, Städte und Chefs verlassen, Liebeskummer überlebt, Eltern beerdigt, Langzeitbeziehungen geführt und endlich eingesehen, dass Diäten nichts bringen.
Aber mir persönlich sind keine Frauen bekannt, die sich behaglich zurücklehnen. Frauen sind stetig vor sich hin sprudelnde Nölquellen, immer unzufrieden, immer damit beschäftigt, irgendwas zu optimieren, meistens ihren Partner oder ihre Figur.
Eine Studie besagt, dass in Deutschland das Alter, in dem die Unzufriedenheit am größten ist, bei zweiundvierzig Jahren liegt.
Wir alle wissen ja, dass unzufriedene Männer völlig harmlos sind. Sie drehen den Fernseher lauter und gehen davon aus, dass sich alles von selbst erledigt. Die unzufriedene Frau hingegen ist eine Zeitbombe.
Solide Ehen werden mehrmals täglich angezweifelt, die letzten Eizellen mobilisiert, Salsa-Kurse gebucht und der Seitensprung immer mehr für einen Stützpfeiler der modernen, dauerhaften Ehe gehalten.
Denn jetzt ist die Zeit, in der noch einmal, ein letztes Mal, alles möglich ist. Oder möglich scheint.
Du siehst noch schnafte aus, es gibt in deinem Leben noch regelmäßige Eisprünge, und du kommst spielend mit Puls hundertzwanzig einmal durch den Stadtpark und wieder zurück, bist beruflich etabliert und hast keine Kinder, oder sie sind aus dem Gröbsten raus.
Jetzt könnte es beginnen, dein zweites Leben. Und dann kaufst du dir figurformende Latexwäsche und fragst dich, wer du bist und wer du eigentlich sein willst, wie du lebst und wie du eigentlich leben könntest.
Du zweifelst an dir und am Sinn des Lebens, fängst an, esoterische Bücher zu lesen, und fühlst dich wieder so orientierungslos wie mit vierzehn, bloß dass du Krähenfüße bekommst statt Pickel und Krampfadern statt Mitesser.
Du weißt, dass die Wünsche, die du jetzt nicht verwirklichst, in deinem Herzen vermodern und die Luft verpesten werden. Aber du weißt auch, dass die Fehler, die du jetzt machst, nicht wiedergutzumachen sind.
Und wieder kaufst du Push-ups, teurer zwar und besser geschnitten als die vor fünfundzwanzig Jahren, aber ihr Sinn ist derselbe. Bin ich schon eine sexy Frau?, willst du mit fünfzehn wissen. Heute fragst du dich: Bin ich es noch?
In den letzten zehn Jahren ruhten deine Brüste friedlich und unbehelligt in harmlosen Büstenhaltern. Mit dreißig stabilisieren sich Karrieren, Beziehungen und Egos. Das Altwerden ist genauso weit weg wie die Torheiten der Jugend. Die goldene Mitte. Eine angenehme Zeit für alle Beteiligten, auch für Brüste.
Aber jetzt sind dir die tapferen Kameraden plötzlich nicht mehr gut genug, werden hochgeschnürt und eingezwängt, obschon sie sich auf einen gemütlichen Lebensabend in Baumwoll-BHs mit breitem Bündchen eingestellt hatten.
Und dann fängst du an, dich für Botoxinjektionen und Lidstraffungen zu interessieren, für den zweiten Bildungsweg, für eine Hypnotherapie, für eine Samenspende oder eine Ausbildung zur Pilates-Trainerin.
«Ab wann ist man eigentlich alt?», fragte ich. «Selma treibt es jetzt noch auf glitschigen Latexlaken, aber in vier, fünf Jahren wird sie sich fragen, ob sie sich dabei nicht allzu leicht eine Zerrung oder gar einen Bruch zuziehen könnte. Und mit einem gebrochenen Oberschenkelhalsknochen beginnt immer der Anfang vom Ende.»
«Dasselbe gilt ja auch für Sex im Auto», sagte Selma. «Zum Glück fahre ich mittlerweile einen Kombi. Ich glaube, dass es meiner sexuellen Entfaltung gar nicht zuträglich war, dass ich in einer Ente entjungfert wurde. Du doch auch, Karin, oder?»
«Klar, die Ente von Sebastian Kaiser, dem Bauchnabeleinspeichler. Haben wir darin nicht alle zumindest Teile unserer Unschuld verloren?»
«Wisst ihr, woran ich merke, dass ich alt bin?», fragte Elli. «Gestern kamen mir im Park ein paar junge Typen entgegen, alle Anfang zwanzig. Und das Einzige, was ich dachte, war: Ob die wohl warm genug angezogen sind?»
«Bald werde ich einen Liebhaber haben, bei dem ich nicht genau weiß, ob er leidenschaftlich ist oder einen Asthmaanfall hat», sagte Selma. «Das Gute am Älterwerden ist nur, dass man sich nicht mehr wegen jedem Scheiß schuldig fühlt. Treueschwüre und Gewissensbisse sind was für junge Leute. Ich finde, wer sich in unserem
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