Unter dem Räubermond
Direktheit jemandes Schleier »Gesichtslappen«, womit er seine beiden Mitstreiter, die ihre Gesichter ebenfalls verhüllten, in arge Verlegenheit stürzte. Er selbst bemerkte seinen Fauxpas natürlich nicht und verhielt sich weiter mit dem Hochmut eines Siegers. Er forderte nicht einmal etwas, er stellte Bedingungen. Ar-Maura, dem von Anfang an nicht wohl in seiner Haut war, hüstelte nur, und der finster dreinblickende Scharlach schien allmählich zu bedauern, dass er sich mit einer Nacktfresse eingelassen hatte. Die Einzelheiten des Gesprächs wurden auf irgendeine Weise allgemein bekannt, und bald schon begann die Oase leise und drohend zu summen wie ein aufgestörtes Wespennest. Das spürten alle außer dem Karawanenführer.
Der Richter Ar-Maura dachte voll Bitternis daran, dass der Palmenweg früher oder später ja doch gegen Harwa revoltieren musste. Es würde wohl kaum in nächster Zeit geschehen, aber alles in allem war der Aufstand unvermeidlich. Solange die Hauptstadt solche Karawanenführer wie Chaïlsa auf Kriegsfahrt schickte, würde sich immer ein Anlass zum Aufstand finden … Dann füllte sich die Seele des Ehrwürdigen mit Ärger auf den Trunkenbold Ar-Scharlachi. Wenn einem schon der böse Mond Erfolg schenkte und ein prächtiges Schiff in die Hand gab, vor allem aber Ruhm, der einem Menschen zuführte – konnte man solch eine Gelegenheit vergeuden? Wenn sich Ar-Scharlachi jetzt gegen Ulqar erheben würde … Hier stockte der Richter. Nun, angenommen, er hätte sich erhoben. Und was hieße das? Ja, natürlich war die Versuchung groß, den Dummkopf Chaïlsa zu verhaften, sich mit Ar-Scharlachi auszusöhnen und über dem Palmenweg das blendend weiße Banner des Aufruhrs zu entfalten … Aber was dann? Harwa war noch stark. Sehr stark … Und Kimir um Hilfe zu bieten hieß, dem nächsten Raubtier den Kopf in den Rachen zu legen.
Wie sich alsbald erwies, hatte sich der Richter in seinen bitteren Überlegungen zweimal geirrt. Erstens im Zeitraum, und zweitens gab den Anlass zum Aufruhr in Ar-Ajafas Schatten nicht Chaïlsa, sondern, so seltsam es klingt, Scharlach. Den Karawanenführer brachte es immer in Rage, wenn seine Untergebenen untätig herumlungerten. Er befahl, in den Straßen Wachposten aufzustellen, und so begab sich der berühmte Räuber zähneknirschend mit zehn seiner Männer zum Marktplatz, wo er freilich nie anlangte.
Ein paarmal wurde er über Stampflehm-Mauern hinweg angerufen und spöttisch gefragt, warum er den Schleier noch nicht abgelegt habe. Wenn Nacktfresse, dann Nacktfresse, wozu sich da noch zieren …! Dann folgte irgendein Bettler dem Trupp und begann, dem Anführer die Leviten zu lesen, ihm die früheren Überfälle und die gegenwärtige Ehrlosigkeit vor Augen zu halten. Anfangs versuchte Scharlach, ihn nicht zu beachten, doch dann schlossen sich der Prozession lachende Zuschauer an, und es war ziemlich viel Volk auf der Straße. Er musste stehen bleiben und den zerlumpten Kerl zurechtweisen. Der aber spürte den Rückhalt in der Menge und ließ nicht locker, sondern hob die Stimme und ging vom Tadel zur Anklage über. Und da fielen die verhängnisvollen Worte, die über das Los von Ar-Ajafas Schatten entschieden.
»Warte nur«, drohte der Bettler, »wenn der richtige Scharlach kommt, wird er es dir und deinen nacktfressigen Kumpanen zeigen!«
Geduld war selbst zu seiner besten Zeit nicht Scharlachs Stärke gewesen. Er brüllte los, zog das Haumesser hinterm Gürtel hervor, und der Bettler fiel mit gespaltenem Schädel zu Boden. Dieser Mord wirkte wie ein Fanal. Die Menge heulte auf und stürzte sich auf den kleinen Trupp, der sogleich die Klingen zog. Zum Hafen konnten sich nur sechs durchschlagen, Scharlach eingerechnet.
Der ehrwürdige Ar-Maura (wie auch der Karawanenführer) hatte den Eindruck, der Aufruhr sei vorbereitet gewesen. Gar zu gut eingespielt hatten die Aufständischen agiert. Irgendwoher tauchten Anführer auf, blitzten lange durch Edikt verbotene Klingen, die Wache verlor fast ein Drittel ihrer Leute und schloss sich in den Baracken ein, und die im Hafen liegenden Schiffe hatten einen ernsten Sturmangriff zu überstehen. Daran, Truppen auszuschiffen, war nicht einmal zu denken, und die Karawane überließ die Wachen des Schattens ihrem Schicksal und kroch, immer neue Angriffe abwehrend, zur Hafenausfahrt. Der Plan des Karawanenführers Chaïlsa war einfach: sich der Sonne gegenüber zu postieren und die Oase mit den Kampfspiegeln anzuzünden. Ar-Maura
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