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Unter dem Räubermond

Unter dem Räubermond

Titel: Unter dem Räubermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jewgeni Lukin
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Schlinge wurde mit einem Ruck zugezogen.
    »Ar-Scharlachi!«, wiederholte der Ausrufer schon ärgerlich.
    »Hier!«, meldete sich eine heisere Stimme, und Ar-Scharlachi sah, wie sich ein trübweißer Kittel nach oben entfernte – der Usurpator kletterte am Seil nach oben. Abermals versuchte er sich mit einem Ruck zu befreien, doch die Schlinge schnitt den Blutstrom ab, in seinen Ohren begann es zu dröhnen, vor den Augen tanzten ihm schwarz-rote Kreise, und dann verlor Ar-Scharlachi das Bewusstsein.
    Er kam recht schnell wieder zu sich. Seine Kehle war zugedrückt, überm Ohr hörte er wütenden, schnellen Atem. Er hatte keinen Moment von dem, was geschehen war, aus dem Gedächtnis verloren. Der Landstreicher mit der groben, herrischen Stimme hatte sich für ihn ausgegeben und war freigelassen worden. Ja, können die denn einen Gefangenen nicht vom anderen unterscheiden? Freilich, die Wächter sind allesamt Nacktfressen, für die sehen wir alle gleich aus. Erst recht nachts … Ar-Scharlachi warf sich herum, und der Druck auf den Hals wurde fester. Schreien? Zwecklos … Der wie ein Städter herausgefütterte Halbwüchsige war natürlich schwächer, befand sich aber in weitaus günstigerer Position.
    Idioten!, dachte Ar-Scharlachi verzweifelt. Idioten! Es kommt ja doch alles heraus … Ar-Maura kennt mein Gesicht …
    Der Halbwüchsige, der ihm auf dem Rücken lag, regte sich krampfhaft, um eine bequemere Lage einzunehmen, und etwas an dieser Bewegung verblüffte Ar-Scharlachi … Dass dich doch gleich der böse Mond blende! Was denn für ein Halbwüchsiger? Was, dass dich der Samum verschütte, für ein Halbwüchsiger? Wie hatte er diese etwas spröde hohe Stimme für die eines Jungen im Stimmbruch halten können …? Auf Ar-Scharlachis Rücken lag eine Frau, als Mann gekleidet! Sie lag da und ließ die Schlinge bald lockerer, bald zog sie sie an …
    Das aber konnte er unmöglich dulden! Er stieß ein kurzes Stöhnen aus und erschlaffte, als sei er wieder ohnmächtig geworden. Die Schlinge wurde sofort gelockert, und Ar-Scharlachi riss sofort die Hände an die Kehle und konnte die Finger unter den dünnen Strick schieben. Er stützte sich mit der Stirn auf den Sand, stellte sich auf die Knie, täuschte eine Bewegung nach links vor und warf sich dann heftig auf die rechte Seite, wobei er mit der Schulter den Arm der Würgerin festklemmte. Es folgte ein unterdrücktes Katzenfauchen, dann ein Schlag mit gespreizten Fingern auf die verschleierte Wange. Sie hatte wohl in die Augen treffen wollen, diese aber im Dunkeln verfehlt … Ar-Scharlachi packte das Miststück bei den Schultern und warf sie mit dem Rücken in den Sand. Ich erwürge sie, schoss ihm durch den Kopf, während er um Atem rang, doch da rissen ihm die kleinen kräftigen Hände den Schleier ab, und im nächsten Augenblick wurde Ar-Scharlachi auf ganz unerwartete Weise attackiert. Als dunkler Fleck schoss ihm ein Gesicht entgegen, und auf dem Mund der Gefangenen brannte plötzlich ein leidenschaftlicher Kuss.
    »Ich will! Ich will …!«, begann sie zu stöhnen. »Wie … stark du bist!«
    Mit einer wütenden Bewegung riss er sich die Schlinge vom Hals, doch sich von der Unbekannten loszureißen erwies sich als weitaus schwieriger.
    »Lass!«, stöhnte sie. »Lass … ihn laufen … lass!«
    Der böse Räubermond mag es bezeugen – Ar-Scharlachi konnte partout nicht verstehen, wie es kam, dass ihr tödlicher Kampf in einen Liebeskampf überging. Er war von diesem plötzlichen Taktikwechsel derart überrumpelt, dass er bald schon überhaupt nicht mehr klar dachte … Und er brauchte nur für einen Moment zu sich zu kommen, schon flammte die Leidenschaft der Fremden mit doppelter Kraft auf, und Ar-Scharlachi verlor wieder den Kopf. Das Zeitgefühl ließ ihn dabei natürlich im Stich. Als sie schließlich schwer atmend vom zerwühlten Sand aufstanden, einen Schritt zurücktraten und einander anschauten, ergoss sich in den Brunnenschacht schon das Morgengrauen.
    Ein Albtraum. Das konnte nur ein Albtraum sein … Die Unbekannte, ohne Ar-Scharlachi aus den dunklen, halb zusammengekniffenen Augen zu lassen, strich sich ohne Eile den Kittel glatt und verhüllte das Gesicht wieder mit dem Schleier.
    Ar-Scharlachi hatte freilich schon gesehen, dass seine Geliebte und Würgerin breite Backenknochen hatte, eine kurze gerade Nase und ein eigensinniges Kinn. Derlei resolute Frauen gesichter mit übermäßig ausgeprägtem Profil hatten ihm, ehrlich gesagt, nie

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