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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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vorne ist das Märtyrerdenkmal«, erläuterte Maya betont sachlich und eine Spur zu laut, als sie hastig auf die imposante Steinspitze über einem Stufensockel zeigte, die vor ihnen an der Stelle emporragte, an der die St. Giles Street sich in die Magdalen und die Beaumont Street gabelte. »Es soll an Thomas Cranmer, Nicholas Ridley und Hugh Latimer erinnern, die drei anglikanischen Bischöfe, die nach der Thronbesteigung Königin Marias als Ketzer verbrannt wurden. Allerdings stand der Scheiterhaufen ein gutes Stück weiter stadteinwärts, in der Broad Street, gegenüber dem Balliol.« Maya schmunzelte. »Es geht das Gerücht um, dass sich Studenten hin und wieder den Spaß erlauben, Besuchern der Stadt weiszumachen, das Denkmal sei die Turmspitze einer unterirdischen Kathedrale. Gegen einen kleinen Obolus bieten sie ihnen dann eine Führung durch diese geheimnisvolle Kirche an.«
    Ralph lachte. »Und dann?«
    »Nachdem sie das Geld kassiert haben, führen sie die Neugierigen um ein paar Häuserblocks herum in die Irre und rennen irgendwann grölend weg«, gab Maya zu und stimmte in sein Lachen ein.
    »Meine Güte, Maya«, schniefte Angelina mit gerümpftem, rotgefrorenem Näschen, »inzwischen dürften wir alle begriffen haben, dass du über beeindruckende Kenntnisse der Stadtgeschichte verfügst! Aber könntest du es jetzt gut sein lassen, ehe du unseren Gast damit zu Tode langweilst?«
    Ihre so gescholtene Schwester errötete bis unter die Haarwurzeln, wandte beschämt den Kopf ab und marschierte ein paar Schritte voraus.
    »Seien Sie unbesorgt, Miss Angelina, ich langweile mich keineswegs«, rief Ralph hastig mit einer leichten Verbeugung und eilte Maya hinterher. Angelina blickte Jonathan empört an, als dessen Ellenbogen sie in der Rippengegend traf, und ihre Lippen formten ein stummes »Was?«.
    »Ich finde das alles wirklich sehr interessant, Miss Greenwood«, bekräftigte Ralph, nachdem er Maya eingeholt hatte. »Es muss doch großartig sein, hier zu leben, inmitten all dieser alten Gebäude mit ihren Geschichten.«
    Maya zuckte leicht mit einer Schulter. »Einerseits ja. Andererseits empfinde ich es oft als bedrückend klein und eng hier. Es verändert sich nie wirklich etwas.« Kaum hatte sie diese Gedanken ausgesprochen, schienen sie ihr zu trübselig und unpassend für einen Besucher, und schnell schlug sie wieder einen munteren Tonfall an. »Im Sommer ist es wirklich schön hier, wenn alles grün ist, all die Parks und Gärten. Auf dem Cherwell kann man Ruderboote mieten, und es gibt die Stocherkahn-Wettkämpfe.« Ihre Worte klangen ihr selbst hölzern in den Ohren, doch Ralph schien davon nichts zu bemerken.
    »Oxford im Sommer würde ich mir sehr gerne einmal ansehen«, meinte er leise, mit der Andeutung einer Frage in der Stimme und einem Blick, der Maya verlegen die Augen niederschlagen und ihren Herzschlag sich beschleunigen ließ.
    Sie setzten ihren Weg fort, am Balliol College vorbei und den Cornmarket hinunter, wo über den mit Stechpalmenzweigen, Engelsfiguren und glitzernden Perlenschnüren geschmückten Auslagen der Geschäfte ein alter Wehrturm Wache hielt – ein Klotz aus rauem Stein, der noch aus jener fernen Zeit stammte, ehe Wilhelm der Eroberer seinen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Maya wollte Ralph unbedingt noch den »Tom Tower« zeigen, den kuppelgekrönten, verschwenderisch ausgeschmückten Turm am Eingang des Christ Church Colleges, ganz am Ende der St. Aldates Street. Von Sir Christopher Wren, dem Architekten der grandiosen Londoner Kathedrale von St. Pauls’ entworfen, beherbergte er die mächtige, respektvoll »Great Tom« genannte Glocke, die lauteste der Stadt, deren Abendgeläut bis weit über die Hügelkuppen rings um Oxford drang. Doch bereits an der Ecke der High Street, an der der Cornmarket in die St. Aldates Street überging, waren Angelinas Klagen, ihr sei kalt und ihre Stiefel drückten sie, beim besten Willen nicht mehr zu ignorieren. Und als sie mit gekonntem Augenaufschlag Ralph darüber in Kenntnis setzte, sie sei eben nicht robust genug für einen langen Spaziergang bei diesen frostigen Temperaturen, kehrten die vier in die Teestube der Konditorei »Boffin’s« ein.
    Bei Earl Grey für die beiden Herren und heißer Schokolade für die jungen Ladys begannen Ralph und Jonathan von Indien zu erzählen. Angelinas Augen bekamen schon bald einen verklärten Ausdruck, während sie Ralph zusah, wie er lachte und gestikulierte, seine Finger über den Rand

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