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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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tastete nach der feinen Goldkette, die sich ebenfalls seit Weihnachten an ihren Hals schmiegte. Mitsamt dem dazugehörigen ovalen Medaillon hatte sie ihrer Großmutter Alice gehört, und Maya hätte sie eigentlich erst zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag im Mai bekommen sollen. Doch aus unerfindlichen Gründen hatte Gerald entschieden, sie ihr schon jetzt zu geben. Er war sichtlich gerührt gewesen über Mayas Freudentränen, als sie das Medaillon aufschnappen ließ und die beiden Miniaturen ihrer Großeltern betrachtete, Ende des vorigen Jahrhunderts gemalt, als beide kaum älter gewesen waren als sie und Jonathan oder Ralph.
    Ralph … Maya legte den Kopf wieder gegen die Scheibe und blickte gedankenverloren hinaus. Angelinas Vorwurf, Maya wolle ihr Ralph nur deshalb abspenstig machen, um ihr eins auszuwischen, nagte noch immer an ihr, genauso wie die diversen anderen Kränkungen. Ein Anflug von Schuldbewusstsein mischte sich mit Wut und Verunsicherung, jedes Mal, wenn sie daran dachte. Immer wieder ging sie in Gedanken, angefangen beim ersten Moment, als sie und Ralph in der Halle einander in die Augen gesehen hatten, alles durch. Doch wie sie es auch drehte und wendete: Es änderte nichts daran, dass sie, Maya, Ralphs ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte – warum auch immer. Und sie empfand Genugtuung bei dem Gedanken, dass Angelina einmal nicht das bekam, was sie wollte. Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Nachdenklichkeit und sie wandte den Kopf. »Ja?«
    »He«, grüßte Jonathan mit einem langgezogenen Laut burschikoser Zärtlichkeit, als er den Oberkörper ins Zimmer hereinstreckte. »He«, antwortete Maya in exakt gleichem Tonfall. Als sei Jonathan nie fortgewesen, sie beide nicht längst den Kinderschuhen entwachsen, waren sie zu den vertrauten Ritualen früherer Tage zurückgekehrt.
    »Störe ich?« Maya schüttelte den Kopf. »Du störst doch nie.« Jonathan lächelte verschmitzt und schloss die Tür hinter sich. »Hier, der kam eben für dich an«, sagte er, als er ihr einen Brief hinhielt. Über Mayas Gesicht glitt ein Strahlen, als sie die inzwischen vertraute Handschrift darauf erkannte, und hastig öffnete sie den Umschlag. Jonathan setzte sich ihr gegenüber, ein Knie quer auf der Fensterbank ruhend, das andere Bein fest am Boden. Er lehnte sich zurück und beobachtete seine Schwester: wie ihre Augen über die Zeilen huschten und dabei leuchteten, wie die feine Röte sich auf ihren Wangen abzeichnete und wie sie die Unterlippe zwischen die Zähne zog, sich ihre Mundwinkel immer wieder zu einem Lächeln anhoben.
    Groß war damals seine Enttäuschung gewesen, als es hieß, er habe ein Schwesterchen statt des ersehnten Bruders bekommen. Und noch größer, als er sich über den Rand der Wiege beugte und feststellen musste, dass selbiges Schwesterchen sich keinen Deut um seinen heiß geliebten General aus bemaltem Zinn scherte, den er ihr zur Begrüßung hatte schenken wollen, und dass das rosige Bündel in Spitzen und Volants außerdem auch viel zu klein und zu zerbrechlich war, um es zum Spielen mit nach draußen nehmen zu können. Doch als Jonathan vorsichtig die winzige Faust angetippt und diese sich mit solcher Kraft um seinen Zeigefinger geschlossen hatte, dass er erschrocken zusammengezuckt war, als er sich von den großen Augen ernst gemustert fühlte, da hatten sie Freundschaft geschlossen, der knapp Sechsjährige und das Neugeborene. Eine Freundschaft, die über die Jahre so innig geworden war, dass es wohl niemanden auf dieser Welt gab, dem Jonathan sich näher fühlte als Maya. So nahe, dass er die Verbundenheit mit ihr noch über die Loyalität zu Angelina und seinen Eltern stellte, indem er sich bereit erklärt hatte, Ralphs Briefe am Rest der Familie vorbeizuschmuggeln. Nicht zuletzt aus dem eigenen Interesse heraus, dadurch den Familienfrieden noch eine Weile wahren zu können. Denn auch wenn Angelina sich ihre Niederlage nicht anmerken ließ, bei gesellschaftlichen Anlässen wie gewohnt huldvoll die Gunstbezeugungen der anwesenden Herren entgegennahm, Hoffnungen weckte, ohne ein Versprechen zu geben, so hatte Jonathan doch Gesprächsfetzen zwischen ihr und Martha aufgeschnappt: Angelina war fest entschlossen, Ralph Garretts Herz zu erobern, koste es, was es wolle, und sollte es ernst werden zwischen Ralph und Maya, so stand den Greenwoods eine Krise ins Haus, die Black Hall zweifellos in seinen Grundfesten erschüttern würde.
    Als er sah, dass Maya den Brief

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