Unter dem Safranmond
trauerten, um einen Freund ebenso wie um verpasste Gelegenheiten; die sich nur den Halt zugestanden, den ein Tresen bot. Männer wie Ralph Garrett.
Erst nach vielen Tagen schob sich der Gedanke in Mayas Bewusstsein, dass sie nicht allein war mit diesem Verlust. Dass es Eltern gab, noch eine Schwester, eine Verlobte, die den gleichen, vielleicht sogar einen weitaus grausameren Verlust erlitten hatten. Doch ein ums andere Mal, das Maya über einem leeren Briefbogen saß, fehlten ihr die Worte, zitterte ihre Hand, die die Feder hielt, bis sie ihr aus den kraftlosen Fingern glitt. Wie konnte sie Trost spenden, wo sie selber keinen hatte? Wo sollte sie anfangen, sich ihrer Familie wieder anzunähern? Gerade jetzt schien dies möglich, weitaus mehr als all die Monate zuvor – und doch ungleich schwieriger.
Es war Ende April, mehr als fünf Wochen nach jener Todesnachricht, dass Maya erneut verzweifelt nach Worten suchte, eine Brücke zu ihren Eltern zu schlagen. Doch jedes Mal, wenn sie sich auch nur an den großen Verlust heranzutasten versuchte, erschienen ihr die Worte trocken und falsch, lösten sie in Maya eine neue Welle des Schmerzes aus, die es ihr unmöglich machte, weiterzuschreiben. Wütend über ihre eigene Hilflosigkeit warf sie die Feder hin und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Und kein Ort, an dem wir ihn betrauern können , kam es ihr in den Sinn. Ruckartig hob sie den Kopf, als ihr der Turm des Schweigens einfiel, zu dem Richard sie damals, im Oktober, gebracht hatte. Im Rückblick ebenso ein schlechtes Omen wie ein Wegweiser in unbeabsichtigter Vorausahnung.
Den englischen Bewohnern Adens war von oberster Stelle nahegelegt worden, zu ihrer eigenen Sicherheit die Stadt nicht zu verlassen; hatte es doch in den vergangenen Wochen einige kleine Zwischenfälle auf der Landenge zwischen der Halbinsel und dem Festland gegeben, in die Beduinen und ein paar Engländer verwickelt gewesen waren und bei denen zum Glück niemand ernsthaft verletzt worden war. Sogar das Tor in der Felswand über der Zugangsstraße nach Aden war mit bewaffneten Wachposten versehen worden. Doch Maya wähnte sich an dieser heiligen Stätte der Parsen in Sicherheit, gerade weil der Turm in völliger Verlassenheit auf seinem Felsvorsprung stand.
Mit jedem Schritt, den sie den steilen Pfad hinaufstieg, manchmal ihre Hände zu Hilfe nehmend, weil die Last ihres Kummers zu schwer war, schickte Maya Verwünschungen zum Himmel hinauf, zu Gott und dem Schicksal, das ihr den Bruder genommen hatte. Die sonnengetränkte, angenehm warme Luft trocknete ihre Tränen, kaum dass sie ihr aus den Augenwinkeln gerollt waren. Atemlos oben am Turm angelangt, blieb Maya stehen, schloss die Augen und ballte die Fäuste, während Wind und Stille sie umschmeichelten und durch das feine Gewebe ihres hellen Kleides drangen. In ihnen glaubte Maya Jonathans Nähe zu spüren, seine Stimme, sein Lachen zu hören, körperlos, wie aus einer Ferne jenseits von Zeit und Raum.
Und Maya schrie, brüllte allen Zorn heraus über diese Ungerechtigkeit, ihr eigenes elendes Dasein, ihre zerbrochenen Hoffnungen, den Schmerz und die Trauer. Klaubte Steine vom Boden auf, schleuderte sie in alle Richtungen, riss an den Pflanzen, als müsste sie Unkraut jäten. Keuchend fiel sie auf die Knie, als ihre Stimme versagte, durchpflügte den dürren Untergrund mit den Fingern, dass Steinchen und grober Sand sie ihr zerschrammten, bis unter die Nagelhaut drangen, ihr Blut sich mit dem Boden mischte. Maya suchte Halt und fand ihn an den weißen Mauern aus Kalkstein, an denen Generationen von Menschen vor ihr den Verlust ihrer Lieben betrauert hatten. Dies war kein Ort christlicher Trauer, sondern ein Ort anderen Glaubens, anderer Volkszugehörigkeit, einer anderen Form des Abschieds. Und doch war das Ergebnis das gleiche, hüllte Maya in Trost ein, als sie um ihren Bruder weinte, als ihre Tränen im Laufe des Tages endlich versiegten. Und während sie an die Grundmauer des Turms gelehnt saß, die Sonne auf ihrem Gesicht, die bewegten Grashalme an ihren Handgelenken auf und nieder streichend, überkam sie so etwas wie Frieden. Und Maya wusste, was sie zu tun hatte.
In unmittelbarer Nachbarschaft des Turms, den die Parsen von Aden für ihre Toten errichtet hatten, ein Stück weit von den Kanten und Felsspalten des Kraters entfernt, saßen zu dieser Stunde Rashad al-Shaheen und ein halbes Dutzend seiner Männer beisammen. Die baufälligen Zisternen oberhalb der Stadt waren ihr
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