Unter dem Safranmond
Zufluchtsort an den Tagen, an denen sie sich durch die Stadt treiben ließen, hier mit alten Bekannten sprachen, dort neue, vielversprechende Kontakte knüpften, beständig Augen und Ohren offenhielten, um mehr über die Struktur und vor allem die Schwachstellen der englischen Besatzungsmacht zu erfahren. Sich dauerhaft in der Stadt aufzuhalten war Rashad zu riskant erschienen, und die durch Ab- und Zulaufrinnen miteinander verbundenen gemauerten Sammelbecken, von Flechten und Gräsern überwuchert, boten ein ideales Versteck: abgelegen, aus dem Innern des Kraters nicht einzusehen und vor allem menschenleer.
Im Herbst des vorangegangenen Jahres hatte Colonel James Outram schon wieder genug von Aden gehabt und war nach Bombay zurückgekehrt, wo ihn ein weitaus besserer Posten erwartet hatte. Sein Nachfolger Colonel William Coghlan war erst einmal zu beschäftigt, sich in Outrams Hinterlassenschaft einzuarbeiten und den Status quo an Verwaltung und laufendenArbeiten zu erhalten, als weiterführende Baumaßnahmen im Besatzungsgebiet ins Auge fassen zu können, und so blieben auch die Zisternen einstweilen ihrem langsamen Verfall preisgegeben, unbeachtet von der unter ihnen liegenden Stadt.
Obwohl sie sich noch nicht lange wieder hier aufhielten, stand Rashad al-Shaheen nun auf, um nach den Pferden zu sehen, die ein Stück weiter unten angebunden waren. Zwar meist unnötig, war dies eine Gewohnheit, die er sich weigerte abzulegen, weil er wusste, wie viel im Ernstfall von der Verfügbarkeit und dem guten Zustand ihrer Reittiere, von Sattel und Zaumzeug abhing. Und ebenfalls war es eine Gewohnheit von ihm, in regelmäßigen Abständen seine Blicke aufmerksam über die Umgebung schweifen zu lassen, mochte diese auch noch so ruhig und unverdächtig erscheinen. Als Ali al-Shaheen, Rashads Vetter und rechte Hand, sah, dass sein Hauptmann konzentriert einen Punkt schräg unter ihnen, auf der Innenseite der Kraterwand, ins Auge fasste, sprang er auf und stellte sich neben ihn. »Seltsam«, murmelte er, als er ebenfalls zum Turm des Schweigens hinübersah, vor dem sich eine Frauengestalt in heller Kleidung vom Boden erhob, die weiten Röcke ausklopfte und sich daranmachte, den Pfad wieder hinabzugehen. »Eine einzelne Parsin – dort? «
Der Fuchswallach wandte Rashad den schön geformten Schädel zu, und Rashad raunte ein paar Liebkosungen, strich ihm über Stirn und Nüstern. »Das ist keine Parsin«, berichtigte er Ali. »Sie trägt die Kleidung der faranj .« Auch wenn Rashad sich scheinbar in der Beschäftigung mit dem Pferd erging, bemerkte Ali doch das Funkeln in seinen Augen, konnte er an seiner Miene ablesen, dass Rashad nachdachte. Ali ließ mit einem Ausdruck zwischen Verblüffung und Entsetzen seinen Blick zwischen der Engländerin, deren Kleid sich so kontrastreich vom Lavagestein abhob, und seinem Hauptmann hin- und herschweifen.
»Du planst doch nicht …«
»Die faranj haben keine anderen Frauen hier als die der Soldaten«, erklärte Rashad mit ausdrucksloser Miene. »Und ich habe gesagt, wir müssen sie treffen, wo sie am empfindlichsten sind.«
Ali nickte und schenkte seinem Vetter sein breitestes Grinsen. »Wenn das kein guter Plan ist!« Mit einem Blick über seine Schulter griff er zum Zaumzeug seines eigenen Pferdes. »Dann sollten wir uns aber beeilen!«
Rashad schüttelte den Kopf und bedeutete Ali, ihm zurück zu den anderen zu folgen. »Nein, kein Grund zur Eile. Sie wird wiederkommen.« Seine Augen folgten dem hellen Punkt vorm schwarzen Fels, der rasch hinabwanderte, wurden schmal, als könnte er so selbst auf die Entfernung noch einmal die Geste sehen, mit der sich die Frauengestalt vorhin ebenso entschlossen wie tröstend über Augen und Wangen gewischt hatte. »So wahr ich hier stehe«, murmelte er.
»Gibst du mir Geld, bitte?«, empfing Maya Ralph an diesem Abend, als er lange nach Dienstschluss aus dem Kasino zurückkehrte. »Ich brauche Trauerkleidung und will zurück nach England, zu meiner Familie. Sie braucht mich jetzt, und ich sie auch.«
Er starrte sie fassungslos an, überrascht von ihrer Bitte wie von ihrer neu gewonnen Stärke, ihrer zur Schau gestellten Entschlossenheit. Dann senkte er den Kopf, drehte sich um und begann sich mit unsicheren Händen ein Glas Brandy einzugießen. Maya stand auf und tat ein paar Schritte auf ihn zu. »Ralph?«
Er nahm ein paar tiefe Züge. »Ich hab nichts übrig«, hörte sie ihn schließlich sagen.
»Ich brauche auch nicht viel«, zeigte Maya
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