Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
allerdings … wenn der Chefokkultist der Nazi-Bonzen so einen Brand voraussagt, dann fragt man sich schon, woher er das weiß.
»Jedenfalls ist es ein Beweis dafür, dass er wirklich große Ereignisse voraussehen kann.«
Klara wünschte ihm eine gute Nacht und ging mit klopfendem Herzen auf ihr Zimmer. Ausziehen, sofort? Nein, nur keinen Verdacht erregen!
Sie überprüfte ihre Papiere im doppelten Boden des Koffers. Da waren noch Dokumente, die ihre wahre Identität bestätigten. Auf die sollte sie ausweichen, wenn die Tarnung als Engländerin nicht mehr funktionierte. Das würde kaum möglich sein, immerhin wurde sie wegen eines Anschlags auf einen Hamburger Polizeioffizier gesucht. Aber vernichten? Sie versteckte die Papiere wieder im doppelten Kofferboden. Den Briefumschlag, ein paar Zettel und Papierfetzen mit verräterischen Notizen verbrannte sie im Aschenbecher. Dann ging sie den Hotelflur ab und suchte nach dem Fluchtweg im Brandfall. Er führte über eine Treppe ins oberste Geschoss, wo man über eine Luke aufs Dach klettern konnte. Die im Treppenhaus liegende Leiter gehörte dazu.
Zurück im Zimmer setzte sie sich im Mantel ans halb geöffnete Fenster, rauchte und horchte in die Nacht.
Wenn draußen Stiefelgetrappel zu hören ist und Befehle gebrüllt werden, flüchte ich aufs Dach. Wenn sie sich anschleichen, springe ich aus dem Fenster.
Irgendwann nickte sie ein, ihr wurde kalt und sie kroch doch ins Bett. Am Morgen noch beim Aufwachen der erste Gedanke: Ich werde von nun an immer eine aktuelle Times bei mir tragen …
Der Tagesportier wunderte sich, dass sie ohne Frühstück das Hotel verlassen wollte. Sie schützte vor, verschlafen zu haben.
Mit ihrem Koffer setzte sie sich in ein überfülltes Kaffeehaus beim Gendarmenmarkt und aß mit einer Gier, die sie selbst überraschte, ein großes Frühstück mit Ei und Schinken.
Sie rekapitulierte ihre Situation. Der Auftrag lautete, alles über den angeblichen Brandstifter herauszufinden. Wenn es sein musste, sollte sie ihre Kontakte ins Milieu der Linkssektierer nutzen. »Wir wissen, dass du Kontakte zu Anarchisten hast …« Der einzige Anarchist, den sie kannte, war Ludwig Rinke, und den konnte man kaum als Sozialrevolutionär bezeichnen. Dennoch und obwohl er behauptete, nur auf eigene Rechnung zu arbeiten, hatte er Verbindungen zu echten Revolutionären. Aber stehe ich nicht kurz vor dem Verrat, wenn ich ihn als Informanten benutze? Könnte die Partei nicht jemanden abkommandiert haben, der mich beaufsichtigt? Ha, falle ich etwa schon auf die Propaganda der bürgerlichen Presse herein, die behauptet, die Internationale befinde sich im Würgegriff der GPU? Hast du jemals diesen Griff gespürt? Der angeblich allmächtige Apparat des Genossen Stalin ist nicht einmal mächtig genug, dich davor zu bewahren, haarscharf an der Entdeckung durch deine Verfolger vorbeizuschlittern. Wäre ich einen Tag früher in Friedrichshain angekommen, eine Stunde früher im Wedding, zwei Stunden früher im Hotel …
Klar ist, dass ich weder die einen noch die anderen, weder die Gegner noch die Genossen, zu Ludwig Rinkes Unterschlupf führen darf. Die Partei wirkt in diesen Tagen, wo es darauf ankäme, straff organisiert dem faschistischen Terror entgegenzutreten, merkwürdig desorganisiert. Nach all dem, was ich mit angesehen habe, kann ich mich nur wundern … Angst bekommen … der Verzweiflung verfallen? Weiterkämpfen! Und den Auftrag ausführen, den ich angenommen habe.
»Sie rauchen zu viel, Fräulein«, sagte eine ältere Frau am Nebentisch. »Ich bin ja schon völlig eingenebelt.«
Klara entschuldigte sich, zahlte und ging. Besser gesagt, sie lief davon vor möglichen unbekannten Verfolgern der eigenen oder der feindlichen Seite, besuchte Läden, die mehrere Eingänge hatten, durchquerte Cafés, eilte im Laufschritt durch Kaufhäuser, benutzte Nebenausgänge, Hintertüren, hastete über Höfe in Seitenstraßen, durch Grünanlagen, fuhr kurze oder längere Strecken mit U-Bahn, Straßenbahn, denungeliebten Bussen, nahm für eine kurze Strecke ein Taxi – und landete schließlich in Kreuzberg, wo sie wieder Hauseingänge, Höfe, Treppenhäuser, Kellertüren und Durchgänge benutzte, in atemloser Hast, mit einem verrückten Ehrgeiz, unbedingt die abwegigsten Haken zu schlagen, in der Hand immer den lästigen Koffer.
Und dann stand sie vor der Tür der angegebenen Adresse im Hinterhof-Souterrain eines Mietblocks. Auf die Tür gemalte Buchstaben: Otto –
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