Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
Reparaturen aller Art . Ein kleiner drahtiger Mann in Manchesterhose und gestreiftem Sweater, mit scharf geschnittenem Gesicht, Hakennase, glatt gekämmten Haaren und Sportschuhen, wie Boxer oder Ringer sie tragen, stand vor ihr. Er erinnerte Klara eher an einen Artisten aus dem Zirkus oder einen Jockey als an einen Handwerker.
»Guten Tag, mein Koffer ist kaputt«, sagte Klara, die über der Tür ein offenes Küchenfenster bemerkt hatte.
»Na ja«, sagte der Mann, »dann kommen Sie mal rein.«
Klara schloss die Tür hinter sich. »Sind Sie Otto?« Sie stellte den Koffer ab. »Ich bin Klara. Ist Ludwig hier?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Einen Otto gibt’s hier nicht, hat’s hier nie gegeben, wird’s hier nie geben. Sagen wir mal, ich bin Ludwig der Zweite.«
»Ist er hier?«
»Ludwig der Erste? Nein. Der ist arbeiten gegangen. Aber setz dich doch.«
»Bist du der, den Ludwig ›Genosse A‹ nennt?«
Der Mann, der nicht Otto und bestimmt nicht Ludwig hieß, zuckte mit den Schultern. Das konnte man auch als Bejahung deuten.
Klara schaute sich um.
Der Raum war niedrig, aber recht groß, ein breiter Durchgang führte in einen zweiten, noch weitläufigeren Raum, der nur durch Eisenträger, Werkbänke, Kommoden, Schränke, Haushaltsgeräte und Möbelstücke, die offenbar repariert werden sollten, abgeteilt wurde. Ein modernes Radiogerät, völlig auseinandermontiert, stand auf einem Tisch, in einer Ecke ein Grammophon mit abgebrochenem Trichter und zahllose andere Sachen. Obwohl es viele Gegenstände waren,schien alles sich wohlgeordnet an seinem Platz zu befinden. Erstaunlicherweise fiel durch die Souterrain-Fenster genügend Licht herein, dass man ohne künstliche Beleuchtung arbeiten konnte.
»Wir haben auch ein Gästezimmer«, sagte Genosse A und führte Klara durch einen Verschlag, in dem ein Bett stand, durch ein dunkles Kabuff, wo zwei Feldbetten an der Wand lehnten, in ein Zimmer mit einigen Möbeln und zwei gemachten Betten. In dem einen schien Ludwig zu schlafen, jedenfalls lagen auf dem Nachtschränkchen einige dicke Bücher, darunter Feuerbach und Nietzsche und eine zerfledderte Ausgabe von Voltaires Candide . Auf dem Boden eine Ausgabe der Zeitschrift Der Syndikalist . Genosse A hob sie auf und wollte sie aufs Kopfkissen legen, hielt dann aber inne.
»Er weigert sich, das zu lesen, ich leg’s ihm trotzdem immer hin. Wenn es um Organisation und politische Aktion geht, ist er störrisch wie ein Kind, besser gesagt wie ein Esel.«
»Mir sagte er, er hätte eine politische Aktion geplant.«
Genosse A kniff die Augen zusammen: »So? Hat er das? Interessant.« Er reichte ihr die Zeitschrift. »Ist jetzt natürlich auch verboten, die Neuausgabe heißt Arbeiter-Echo . Ich hab auch alle Exemplare der Internationale , falls du dich theoretisch weiterbilden möchtest.«
»Die Internationale ?«
»Eine sehr interessante Zeitschrift für alle, denen Freiheit genauso wichtig ist wie Gerechtigkeit.« Seine Augen blitzten auf.
»Kenne ich nicht.«
»Nein? Ihr Kommunisten seid wirklich Sektierer.« Er deutete auf das zweite Bett. »Das kannst du haben, falls du bleiben musst. Mach’s dir bequem. Keine Ahnung, wann Ludwig zurückkommt. Ich bring dir was zu lesen … gelangweilt hat sich bei uns bislang noch keiner.«
Ludwig Rinke war am frühen Abend zur Stelle, grüßte seinen Freund fröhlich und bekam bei Klaras Anblick schlagartig schlechte Laune. Fast schien er sie zu ignorieren.Genosse A war irritiert und machte sich in seiner Küche zu schaffen.
»Pichelsteiner Eintopf«, sagte er, als er den großen Topf auf den Tisch wuchtete, »sein Lieblingsessen, hoffentlich bessert es seine Laune.«
»Wenn ich jetzt schon weiß, dass ich die nächsten drei, vier Tage immer das Gleiche kriege …«, nörgelte Rinke, entschuldigte sich dann aber.
»Was ist denn los?«, fragte Klara verunsichert.
»Was ist los, was ist los …«, begann Rinke und fuchtelte mit dem Löffel herum. »Ich weiß jetzt, worauf dein Auftrag hinausläuft, das ist los.« Er wandte sich an seinen Freund: »Und das wird dir auch nicht gefallen. – Von Moskau her tönt es, aus Paris tönt es und aus London. Die Propagandawalze der Stalin-Anbeter hat losgelegt, und nun rollt sie über ihn hinweg, in Treue fest vereint mit dem Panzerwagen der Nazi-Justiz.«
»Über wen?«
»Van der Lubbe. Die Nazis benutzen ihn als Vorwand für die Kommunistenhatz, die Kommunisten beschmeißen ihn mit Dreck, er sei ein schwuler Lustknabe, den
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