Unter dem Schatten des Todes - Brack, R: Unter dem Schatten des Todes
an dich.
Rinke tat es mit einem Schulterzucken ab. »Du zitterst, ist dir kalt? Setz dich an den Tisch, ich mach uns einen Grog. Das hier hab ich auf dem Rückweg bei einem Feinkosthändler gefunden, ein echter Martiniquer und kein bisschen runterverdünnt. Der möbelt uns auf.« Er zog die Flasche aus der Tasche des SS-Mantels.
Klara studierte apathisch das Muster der Tischplatte. Als der dampfende Grog vor ihr stand, kam sie wieder zu sich, trank hustend und wärmte sich die Hände am Glas.
»Wo ist denn Otto oder wie er heißt?«, fragte sie.
»Der ist bei seinen Genossen, die organisieren die Untergrundarbeit.Die haben eine kleine Druckerei, die sie jetzt in ein Versteck bringen müssen.«
»Welche Genossen?«
»Syndikalisten. Hat er dir nicht irgendwelche Zeitungen gegeben? Die würden übrigens zu dir passen. Die wollen die Revolution, ohne strammzustehen.«
»Pah, marschieren muss man schon. Ohne straffe Organisation geht gar nichts.«
»Ich vermute, du sprichst von deiner Partei. Straff organisiert den Nazis in die Arme marschieren, ist das das Ziel?«
»Hör doch auf«, murmelte sie. Ihr fehlte die Kraft, lauter zu werden.
»Zwei große Arbeiterparteien, Hunderttausende organisierte Mitglieder, Millionen von Wählern … und was hören wir von ihnen? Straff organisiertes Schweigen. Offenbar sind die Führer, wenn sie sich nicht fangen ließen, auf und davon. Die unteren Chargen halten die Köpfe hin, und das Fußvolk wartet geduldig, dass mal ein Befehl von irgendwoher kommt.«
»Warte nur ab …«
»Das ist ja der Fehler, das Abwarten. In dieser Hinsicht muss ich Otto und seine Leute beglückwünschen. Die werden morgen schon Handzettel verteilen, Plakate kleben und zum direkten Widerstand aufrufen. Stell dir vor, ihr und eure sozialfaschistischen Lieblingsfeinde würden diesem Aufruf einfach folgen …«
Klara atmete den Alkoholnebel ein, der aus dem Glas aufstieg. Sie war nun entspannter, aber mit einem Schlag auch mutlos. »Die haben vielleicht erst mal Glück, aber dann werden sie auch geholt. Die Mordmaschine ist gut geschmiert und läuft auf Hochtouren.«
»Die Mordmaschine lief die ganze Zeit, und wer sie erobert, mordet weiter.«
»Und?«
»Zerschlagen, sagt Otto.«
»Warum tust du’s dann nicht?«
»Ich mach’s anders. Ich schlüpfe durch die engen Maschen des Stacheldrahts, schleiche mich ins Zentrum der Machtund stehle den Goldschatz des Pharao, dabei streue ich ein bisschen Sand ins Getriebe, was vielleicht jenen hilft, die es lahmlegen wollen, aber das geht mich nichts mehr an.«
»Räuberromantik … so dumm.«
»Und wenn schon. Es geht nicht um die Zukunft, immer nur um die Gegenwart. Wer jetzt nicht lebt, ist schon tot.«
»Egoist.«
»Schau dich um: Siebzig Millionen Egoisten, als Menschen verkleidete Gartenzwerge, hängen ihr Mäntelchen nach dem Wind, und an die Schlafmütze kleben sie sich heute das Hakenkreuz, morgen den roten Stern.«
»Das ist doch absurd.«
»Eben.«
»Und all die großen Gedanken von der Befreiung des Menschen …«
»… werden hinter Stacheldraht eingepfercht. Aber wenn du mich so dringend zum kollektiven Aufstand überreden willst, der mir ein Gräuel ist, denn ich müsste mir ja eine Mütze auf den Kopf stülpen, wenn aber, dann halte ich es mit Bakunin, der auf die Frage, was er denn nach seiner Revolution tun werde, antwortete, er würde wahrscheinlich alles daran setzen, die neue Ordnung umzustürzen.« »Bakunin war ein Schwachkopf.«
»Was das betrifft, sind wir tatsächlich Gleiche unter Gleichen.«
»Und trotzdem sympathisierst du mit uns«, sagte Klara mit schwerer Zunge.
»Ich sympathisiere mit dir.«
»Und mit Otto und seinen Syndikalisten.«
»In Maßen vielleicht. Weil sie weiterdenken als die anderen Gartenzwerge. Und weil sie das Wort Freiheit buchstabieren können, ohne rot zu werden.«
»Vor Scham oder Wut.«
»Genau.«
»Und Marinus van der Lubbe?« Klara wurde wieder wach. Der heiße Grog stieg ihr zu Kopf, neutralisierte Angst, Trauer und Scham über die eigene Unfähigkeit und die der Bewegungund machte wieder Platz für den Geist der Empörung, der sie ihr ganzes Leben lang angetrieben hatte.
»Es gibt im Vorgarten der Weltgeschichte auch noch andere Wesen als Zwerge«, sagte Rinke. »Zum Beispiel Maulwürfe, die das kleine Haus vom Zwerg zum Einsturz bringen …« »So einer soll der Holländer sein?« Klaras Augen funkelten. »Ich weiß nicht. Frag ihn doch selbst, wenn er wieder rauskommt aus dem
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