Unter dem Teebaum
Amber erzählte ihm Geschichten. Er war nun beinahe eineinhalb Jahre alt und tapste auf unsicheren Beinchen über das Gut. Manchmal nahm ihn einer der Arbeiter auf dem Traktor mit, manchmal blieb er bei Aluunda und sah ihr bei der Arbeit zu. Oft war er auch mit Saleem unterwegs, dem es eine Freude war, dem kleinen Jungen die Pflanzen und Tiere seiner Heimat zu erklären.
Erleichterung fand Amber nur, wenn Walter zu Hause war, dann kümmerte er sich um Jonah. Ihr Vater liebte seinen schwarzen Enkel von ganzem Herzen. Er brachte ihm Geschenke von seinen Reisen mit, ließ ihn auf seinen Schultern reiten und erklärte ihm die Welt des Weinguts. Doch meist war er unterwegs, und Amber nahm den Kleinen mit in den Weinkeller, wenn Aluunda und Saleem zu tun hatten. Während sie dort arbeitete, erzählte sie Jonah vom Wein. Einmal ließ sie einige Tropfen aus einem Eichenholzfass über ihre Finger rinnen und Jonah ablecken. Sie lachte, als das Kind begeistert jauchzte.
Sie aß zu Mittag, fütterte dann das Kind und brachte es zum Schlafen in sein Bettchen.
Meist war sie zu diesem Zeitpunkt selbst schon so müde, dass sie auf der Stelle einschlafen wollte, doch die Arbeit war noch lange nicht geschafft. Amber erledigte die Geschäftskorrespondenz, fuhr mit dem Landrover zur Bank nach Tanunda und kaufte dort Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel. Kaum war sie wieder zu Hause, erwachte Jonah und rief nach seiner Mutter.
Sie nahm ihn aus dem Bettchen, setzte ihn auf die Decke unter den Teebaum, seinen Lieblingsplatz, und behielt ihn im Auge, während sie sich erneut um die Arbeiter und die Weinberge kümmerte.
Nach dem Abendbrot badete sie das Kind, las ihm eine Geschichte vor und brachte es zu Bett. Die Arbeiter hatten längst Feierabend. Auch Aluunda hatte sich in ihren Lehnstuhl in dem kleinen Steinhaus am Rande des Weinguts, das sie mit ihrem Mann bewohnte, zurückgezogen, Saleem seinen Lieblingsplatz unter den Akazien eingenommen. Für Amber aber begann die zweite Schicht. Sie kümmerte sich um die Bücher, erledigte Abrechnungen und Lohnauszahlungen, bezahlte Handwerker, schrieb Bestellungen, orderte neue Fässer, Flaschen, Korken, entwarf Etiketten und las die Fachzeitschriften, die jede Woche neu ins Haus kamen.
Seit Jonah auf der Welt und sie verheiratet war, hatte sie sich nie mehr mit Maggie oder jemand anderem getroffen. Amber hatte sich vor dem Alleinsein gefürchtet, doch war ihre Furcht unnötig geworden, denn die Arbeit war es, die sie in die Isolation trieb.
Manchmal, wenn sie schon im Bett lag, hörte sie Steve kommen. Meist war er betrunken und krakeelte so laut, dass Jonah weinend erwachte. Amber sprang auf, nahm das Kind zu sich und versuchte es zu beruhigen, damit Steve keinen Anlass zum Streit fand.
Doch das klappte nicht immer.
»Seit du der Winemaker bist, verkommt das Gut«, warf er ihr vor. »Niemand will deinen Wein kaufen. Die Arbeiter parieren nicht, es kümmert sich keiner um die Maschinen. An einem der kleinen Traktoren fehlt seit Monaten der Keilriemen, aber du denkst gar nicht daran, Abhilfe zu schaffen. Die Spritzen für die Düngemittel sind nicht gesäubert. Alles liegt herum, auf dem Gut sieht es aus wie in einem Schweinestall.«
»Das kommt davon, dass ich deine Arbeit mitmachen muss. Du bist es, der sich hier um nichts kümmert«, hielt sie ihm entgegen.
»Pah!«, machte er. »Du weißt genau, wessen Schuld das ist.«
Heute Abend aber war sie nicht nur todmüde, sondern fühlte sich so schwach und schwindelig, dass sie sich bei jedem Schritt irgendwo festhalten musste. Ja, sie dachte sogar zum ersten Mal daran, Steves Erpressung nachzugeben und sich nur noch um Haushalt, Kind und um das Baby in ihrem Bauch zu kümmern.
»Was ist mit dir?«, fragte Aluunda. »Du bist weiß wie die Wand.«
Amber verstand kaum, was Aluunda sagte. Die Worte rauschten an ihr vorbei wie ein Wasserfall. Die Küche begann sich zu drehen, Amber spürte, dass sie fiel, doch den Aufprall nahm sie nicht mehr wahr.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett, und Dr. Lorenz saß neben ihr.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er und griff nach ihrem Puls.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Amber. »Ich bin so furchtbar müde. Am liebsten würde ich tagelang schlafen.«
Dr. Lorenz nickte. »Sie sind erschöpft. Ich habe keine Ahnung, was sie in den letzten Wochen getan haben, doch ich sehe, dass sie am Ende Ihrer Kräfte sind.«
Amber versuchte ein kleines Lächeln. »Das muss die Hitze sein«,
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