Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
Vom Netzwerk:
wurden unruhig, rannten in Panik durcheinander. Dabei töteten sie mit ihren Hufen eine junge Aborigine. Am nächsten Tag stand plötzlich der Stammesälteste dieses Clans vor dem Haus meines Vaters. ›Du hast mein Kind getötet, deshalb musst auch du sterben‹, sagte er. Dann holte er einen Knochen, den weißen Knochen, aus einem Beutel und zeigte damit auf meinen Vater. Jedes Kind in Australien weiß, was das bedeutet. Jeder, auf den der Knochen einmal gezeigt hat, muss sterben. Es ist ein Fluch, der stärkste Fluch der Aborigines – und er wirkt immer. Selbst auf große Entfernungen. Der Stammesälteste zeigte also mit seinem Knochen auf meinen Vater. Meine Mutter sah es und warf sich schützend vor ihn. Der alte Aborigine ließ sofort den Knochen sinken. ›Du bist eine dumme Frau‹, schrie er. ›Jetzt wirst du sterben, obwohl du unschuldig bist.‹ Dann drehte er sich um und verschwand, als hätte ihn der Erdboden verschluckt, noch ehe mein Vater reagieren konnte. Meine Mutter aber musste sich noch am selben Abend ins Bett legen. Sie bekam Fieber und Durchfall. Kein Arzt konnte ihr helfen. Wenige Tage später starb sie.«
    Steve brach ab. Amber, Margaret und Dr. Lorenz schwiegen. Was sollten sie auch sagen? Jeder hatte von dem tödlichen Knochenfluch schon gehört. Und jeder wusste, dass er sein Ziel erreichte, auch wenn es bisher keinem Wissenschaftler gelungen war, dieses Phänomen zu erklären.
    »Es war ein Unglücksfall, Steve«, sagte Margaret nach einer ganzen Weile. Sie trat neben ihn ans Fenster und legte eine Hand auf seinen Arm. »Ihre Mutter muss Ihren Vater sehr geliebt haben.«
    »Pah!«, stieß Steve hervor. »Ein Unglücksfall! Ich war acht Jahre alt und musste zusehen, wie meine Mutter elend zugrunde ging. Seither traue ich keinem Schwarzen mehr. Der Bastard soll wegbleiben, bis Emilia getauft ist.«
    Amber seufzte. Sie hatte Mitleid mit dem kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hatte. Doch der über dreißigjährige Mann, der ein Kind vor einem Kind schützen wollte, war ihr fremd.
    »Ich verstehe Sie, Steve«, sagte Margaret. »Der Priester wird gleich kommen. Er hat versprochen, sofort aufzubrechen.«
    Steve machte sich von Margaret los und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah noch immer aus dem Fenster.
    Plötzlich empfand Amber die Einsamkeit in diesem Raum wie einen Eishauch. Sie sah zu Ralph Lorenz, der seine Instrumente säuberte und mit dem Finger sanft über die Klinge eines Skalpells fuhr.
    Margaret stand neben Steve am Fenster. Gerade hatten sie zueinander gesprochen, doch jetzt schien jeder in eigene Gedanken versunken, die zu schmerzhaft waren, um sie mit anderen teilen zu können. Sie standen nebeneinander, berührten sich sogar an den Schultern – und hatten doch nichts miteinander zu tun.
    Hier in diesem Raum war gerade ein Wunder geschehen: die Geburt eines neuen Lebens. Ein Wunder, das sie alle angerührt hatte.
    Ein Wunder aber auch, das alte Wunden aufgerissen hatte. Die Ankunft des kleinen Mädchens hatte uralte Sehnsüchte berührt. Amber seufzte. Geliebt werden, ja, das war es, was sich alle im Raum hier wünschten. War das so schwer?
    Sie sah zu Steve, war nun bereit, ihn zu rufen, zu sich auf die Bettkante zu holen. Sie hatte schon den Mund geöffnet, sich das Haar aus dem Gesicht gestrichen, da hörte sie Margaret seufzen.
    »Der Priester ist gekommen«, sagte sie und wandte sich an Amber.
    »Ich würde mich gern noch herrichten. Und das Baby muss gebadet werden«, sagte Amber.
    Ihre Worte erschienen ihr unpassend, und sie wusste nicht, wie sie plötzlich in ihren Mund gekommen waren. Sie war traurig, den Augenblick nicht genutzt zu haben. Und sie war erleichtert, dass das Versprechen, das sie Steve gerade geben wollte, unausgesprochen blieb.
    Sie sah zu ihm – er starrte noch immer aus dem Fenster – und wurde plötzlich zornig. Warum sollte sie zu ihm kommen? Warum stellte er sich so ans Fenster, dass jeder seine Einsamkeit sehen konnte? Warum brachte er sie auf diese Art dazu, agieren zu wollen? Hätte er sich nicht auf ihr Bett setzen können? Hätte er sich nicht zu einem Versprechen durchringen können?
    Sie starrte ärgerlich auf seinen Rücken.
    »Ich möchte allein sein«, sagte sie. »Ich möchte mich frisch machen. Dabei brauche ich keine Zuschauer.«
    Ihr Ton war hart, Margaret sah überrascht hoch. Amber bemerkte, dass Steve unter ihren Worten zusammenzuckte, und sie hatte Vergnügen daran. Sie wollte ihn plötzlich strafen, ihm

Weitere Kostenlose Bücher