Unter dem Teebaum
Vater setzte, hörte Saleem noch ein anderes Geräusch. Er senkte den Kopf, öffnete die Augen und entdeckte Jonah, der gerade im Begriff war, das Haus über die Veranda zu betreten. Doch als er seinen Stiefvater hörte, hielt er inne und kauerte sich hinter den Treppenabsatz, dass er nicht gesehen werden konnte.
»Also, Papa, wo liegen meine Wurzeln?«
Steve lachte, und Saleem hörte das Geräusch eines Kusses. »Du, mein Herz, bist eine waschechte Emslie. Deine Wurzeln liegen in Irland. Vor mehr als hundert Jahren kam mein Urgroßvater nach Australien. Er war evangelisch, weißt du, und in Irland regierten damals die Katholiken und machten allen anderen das Leben schwer. Also nahm er meine Großmutter und kam über das Meer. Er hatte ein wenig Geld und kaufte damit ein paar Rinder. Mit etwas Glück und viel Geschick gelang es seinem Sohn, meinem Großvater, die Farm zu vergrößern. Dann kam ein Krieg, und die Zeiten wurden schlecht. Mein Vater verlor einen großen Teil des Besitzes, gerade als ich geboren wurde. Meine Mutter starb, als ich acht Jahre alt war. Dann kam der nächste Krieg. Mein Vater wurde eingezogen und starb beim Angriff auf Darwin am 19. Februar 1942. Plötzlich war ich ein Waisenkind. Ich konnte die Farm nicht halten und verlor sie an einen Spekulanten. So kam es, dass ich nach Beendigung der Schule ebenfalls auf einer Farm arbeitete.«
»Und Jonah? Warum ist er schwarz? Wo sind seine Wurzeln?«
Saleem richtete sich auf, als er das hörte. Er sah zu Jonah, der in verkrampfter Haltung die Knie umschlungen hielt.
»Jonah? Du meinst den Nigger?«, hörte man Steve.
»Er ist mein Bruder«, beharrte Emilia. »Und ich habe ihn lieb. Meistens.«
»Jonah ist nicht dein Bruder. Er ist ein Tier. Alle Schwarzen sind Tiere. Du aber bist ein Mensch, hast einen Vater und eine Mutter. Jonah nicht. Er hat keinen Vater. Das ist bei den Tieren manchmal so. Und er hat keine Wurzeln.«
Steve wurde leiser und seine Stimme nachdenklich. »Im Grunde lebt er gar nicht. Er ist jemand, den niemand braucht, den niemand haben will. Er ist so überflüssig wie eine Reblaus in den Weinbergen. Ein Schädling eben, den man bekämpfen muss.«
Saleem hörte, dass Emilia zu weinen begann, doch er kümmerte sich nicht darum. Er sah zu Jonah, der langsam und ohne Saleem zu bemerken aufstand und mit gebeugten Schultern davonging.
In diesem Augenblick beschloss der alte Mann, noch einmal Vater zu werden. Nicht der Vater eines Säuglings, sondern Jonahs Vater. Er würde ihm seine Wurzeln zeigen, würde ihn lehren, stolz zu sein auf das, was er war.
Langsam rappelte er sich aus dem Stuhl auf. Steve wiegte die weinende Emilia hin und her, bedeckte sie mit Küssen und nannte sie Engel. Schon bald beruhigte sich das Kind. Den Bruder hatte es vergessen.
Saleem presste beide Hände auf den von der vielen Arbeit schmerzenden Rücken und schlurfte davon. Er wusste, wo Jonah zu finden war.
Der Junge saß unter dem Teebaum, auf dem ein Damala sein Nest gebaut hatte. Saleem schlenderte heran, dann setzte er sich neben Jonah.
»Sieh«, sagte er und deutete mit dem Finger nach oben. »Das ist ein Damala. Du, Jonah, gehörst zum Totem der Damala. Dein Clan hat hier auf dem Gut gelebt. Wer dein Vater war, kann ich nur erraten. Es gab einen Aborigine bei den Damalas, der sich durch besondere Klugheit und Geschicklichkeit auszeichnete. Jonah hieß er, genau wie du. Man hat berichtet, dass er im Outback zu Tode gekommen sei.«
Jonah sah auf. Er versuchte, die Tränen auf seinen Wangen zu verbergen, doch Saleem sah sie trotzdem.
Er lächelte ihn an. »Dein Vater war ein guter Mann. Er war stark, klug und von Herzen aufrichtig. Er liebte seinen Clan, sein Land, sein Volk. Und er hätte auch dich sehr geliebt, wenn er dich kennengelernt hätte.«
»Hat … ich meine … meine Mutter …«, stammelte der Junge.
»Deine Mutter hat deinen Vater sehr geliebt. Sie haben sich beide sehr geliebt. Von ganzem Herzen.«
»Ich verstehe«, sagte der Junge leise.
»Nein«, widersprach Saleem. »Ich glaube nicht, dass du verstehst. Deine Mutter und dein Vater haben um ihre Liebe gekämpft, obwohl sie keine Chance hatten. Sie haben etwas versucht, das hier in diesem Landstrich schier unmöglich ist: eine Liebe zwischen Schwarz und Weiß zu leben.«
»Was haben sie getan?«, wollte Jonah wissen. Er hatte seine verkrampfte Haltung aufgegeben und lehnte nun mit dem Rücken gegen den Stamm des Teebaumes und sah Saleem gespannt an.
Saleem zuckte mit den
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