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Unter dem Teebaum

Unter dem Teebaum

Titel: Unter dem Teebaum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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Clan?«
    Saleem schüttelte den Kopf. »Sie sind ins Outback gezogen und nie zurückgekehrt. Ich weiß nicht, wo sie sind.«
    »Sie haben mich allein hier gelassen?« Jonah runzelte die Stirn.
    »Nein, das haben sie nicht. Als sie gingen, wusste niemand, dass deine Mutter schwanger ist. Doch jetzt komm, es wird Zeit, dass wir aufbrechen.«
    Saleem ging einfach los, und Jonah blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
    Der Alte ging an einem Rebenhang entlang und bog dann in ein Eukalyptuswäldchen ab.
    »Nimm dein Taschenmesser«, sagte er und holte selbst einen Dolch aus einem Beutel. »Ich zeige dir, was man alles aus einem Eukalyptusbaum machen kann.«
    Saleem schnitt ein Stück von der Rinde ab und unterhielt sich dabei weiter mit Jonah. »Es gibt drei Gründe, aus denen Menschen krank werden. Ein Grund hat natürliche Ursachen. Ich meine damit Verletzungen, Schnitte, Bisse, kleine Entzündungen der Haut oder aber Bauchweh, wenn man zu viel oder das Falsche gegessen und getrunken hat. Es kann aber auch sein, dass der Mensch die Ahnen verärgert hat. Vielleicht hat er verbotenes Gebiet betreten, vielleicht ein heiliges Objekt betrachtet oder ein Nahrungsmittel verzehrt, das ihm verboten war. Du, Jonah, gehörst zum Damala-Totem. Es ist dir deshalb verboten, dein Totemtier zu jagen oder gar zu essen. Den Leuten vom Emu-Totem ist das Verzehren von Emus untersagt, dem Känguru-Totem die Kängurus und so weiter. Isst man trotz des Verbotes von ihrem Fleisch, so kann es passieren, dass die Ahnen darüber so erzürnt sind, dass sie dem Menschen eine Krankheit schicken. Die Weißen aber kennen solche Gesetze nicht. Im Grunde dürfen sie alles essen, doch sie gehen mit der Nahrung nicht sorgfältig um. Deshalb sind sie so oft krank.
    Der dritte Grund von Krankheit ist die Magie. Auch du, Jonah, hast schon vom weißen Knochen gehört. Nun, es gibt verschiedene Arten, wie sich Menschen gegenseitig Schaden zufügen können. Sei deshalb freundlich und nachsichtig zu allen, denen du begegnest.«
    Jonah nickte eifrig. Dann hob auch er sein Taschenmesser und tat, was Saleem ihm vormachte. Schließlich hatten sie genug Rindenstücke beisammen. Saleem holte einen alten Blechtopf aus seinem Beutel und ein paar Stücke Holzkohle, die unverkennbar aus dem Supermarkt in Tanunda stammten.
    »Wir machen es uns etwas leichter«, erklärte er. »Wir benutzen die fertige Holzkohle. Es würde zu lange dauern, einen Erdofen zu bauen. Du willst ja schließlich nicht Feuerwehrmann, sondern Heiler werden.«
    Saleem lachte. Er ging zum Fluss, füllte den Topf mit Wasser, dann legte er die Eukalyptusrindenstücke hinein. Er entzündete ein kleines Feuer und stellte den Topf darauf.
    Während die Rindenstücke kochten, saß Saleem da und sang leise vor sich hin. Jonah lauschte. Er kannte die Worte nicht, doch die Melodie kam ihm so vertraut vor, als kenne er sie schon immer.
    »Was ist es, was du singst?«, fragte er leise.
    Saleem antwortete: »Die Regenbogenschlange hat alle Dinge ins Leben gesungen. Unser Wissen wird durch Lieder vermittelt. Was für die Weißen die Bücher sind, sind für uns die Lieder.«
    Dann schloss er die Augen und sang erneut das alte Lied seiner Ahnen, das von der Schönheit dieses geheiligten Landes erzählte.
    Immer und immer wieder sang er dieses kleine Lied, bis Jonah sich schließlich die Worte merken konnte und einstimmte. Sie taten nichts anderes, der alte schwarze Mann und der schwarze Junge. Sie saßen nebeneinander, starrten in einen Topf, in dem ein paar Holzstücke schwammen, und sangen.
    Jonah glaubte, in seinem ganzen Leben noch niemals so glücklich gewesen zu sein. Vielleicht war es auch kein Glück, das er empfand, vielleicht war es das große und so selten gewordene Gefühl, ganz und gar mit sich im Reinen zu sein, ganz und gar mit sich und der Umgebung zu verschmelzen. Vielleicht nannte man dieses Gefühl Heimat, vielleicht nannte man es Menschsein. Jonah wusste es nicht, und er dachte darüber auch nicht nach. Er war einfach glücklich, hier zu sitzen und so sein zu dürfen, wie er war: schwarz und jung.
    Nach einer ganzen Weile hörte Saleem auf und rührte in dem Topf. Das Wasser darin hatte unterdessen eine rote Farbe angenommen.
    Jonah sah ihm zu, dann fragte er: »Was bedeutet das Lied? Wie heißen die Worte?«
    »Kommt und seht mein Land. Dieses Land ist heilig. Vor langer Zeit war dies das Land meiner Großmutter und meines Großvaters. Kommt mit offenen Ohren, offenen Augen und einem

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