Unter dem Teebaum
offenen Herzen«, antwortete Saleem. »Es ist das Lied deiner Ahnen, deine Hymne und dein Gebet zugleich.«
Jonah sah den alten Mann ernst an. »Ich werde es immer singen, wenn ich es brauche«, sagte er.
Saleem erwiderte nichts, doch er klopfte dem Jungen auf die Schulter. Dann nahm er den heißen Topf und stellte ihn auf die Erde. Als die Flüssigkeit so weit abgekühlt war, dass er die Rindenstücke herausnehmen konnte, bat er den Jungen: »Nimm die beiden kleinen Tonkrüge aus meinem Beutel. Der rote Saft, der sich aus den Rindenstücken gebildet hat, ist gut gegen Entzündungen und Verletzungen. Auch bei Mückenstichen soll man ihn auf die Haut auftragen. Fülle den Saft in die Krüge, gib einen davon Aluunda, und behalte den anderen für dich. Teste den Eukalyptussaft am eigenen Körper, bevor du ihn bei anderen anwendest.«
Saleem zeigte auf einen Kratzer, den Jonah am Bein hatte.
Jonah tauchte den Finger in den Saft und strich damit über den Kratzer. »Es brennt ein bisschen«, sagte er.
Dann füllte er die beiden Krüge und verschloss sie mit einem Korken.
Am Abend gab er den einen stolz bei Aluunda ab.
»Eukalyptussaft ist das«, erklärte er stolz. »Saleem und ich haben ihn selbst gemacht.«
Aluunda strahlte ihn an, dann strubbelte sie ihm das Haar. Jonah hatte den Eindruck, dass ihre Augen ein wenig feucht wurden. »Willkommen bei den Aborigines«, sagte sie. »Willkommen zu Hause.«
Dann rief sie Amber und präsentierte ihr so stolz, als wäre sie die Mutter, den Eukalyptussaft.
Amber sah Jonah ungläubig an. »Interessierst du dich für Heilkunst?«, fragte sie.
An dem Leuchten in ihren Augen sah Jonah, dass seine Mutter sich freute. »Ja«, sagte er einfach, und dann ließ er sich von Amber in den Arm nehmen und küssen, als hätte er ihr ein besonders schönes Geschenk gemacht.
Beim Abendbrot fasste er seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Ich wünsche mir zum Geburtstag ein Herbarium.«
Amber lächelte ihm zu und nickte. Steve aber, beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt, sah ihn verächtlich an. »Mit vierzehn wünscht sich ein richtiger weißer Junge sein erstes Gewehr. Oder wenigstens einen Kricketball.«
Jonah sah seinem Stiefvater fest in die Augen und erwiderte freundlich: »Ich bin kein weißer Junge. Ich bin schwarz, und ich wünsche mir ein Herbarium.«
Steve sprang auf. »Gibst du mir Widerworte?« Er holte aus und versetzte dem Jungen eine so gewaltige Ohrfeige, dass er samt dem Stuhl umkippte.
»Steve!«, rief Amber und funkelte ihren Mann wütend an. Dann eilte sie zu ihrem Sohn und wollte ihm beim Aufstehen helfen.
Doch Jonah rappelte sich allein hoch. »Danke, Mum«, sagte er. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Amber sah ihn an und wusste im selben Augenblick, dass ihr kleiner Junge heute ein ganzes Stück erwachsen geworden war.
»Entschuldige«, sagte sie zu ihm. »Natürlich kannst du dir selbst helfen.«
»Geh auf die Veranda, und iss dort«, befahl Steve. »Ich kann deine schwarze Fratze nicht mehr sehen.«
Jonah nahm wortlos seinen Teller. Es war nicht das erste Mal, dass sein Stiefvater ihn vom Tisch wegschickte. Manchmal war es, weil er der Meinung war, Jonah esse wie ein Schwein, manchmal waren ihm die Hände des Jungen nicht sauber genug, manchmal suchte er noch nicht einmal nach einem Grund. Nur wenn Walter, Margaret oder Ralph Lorenz da waren, hielt Steve sich zurück. Jedes Mal hatte Jonah Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Meist folgte ihm seine Mutter, doch dann saßen sie beide wie Ausgestoßene draußen und fühlten sich nicht stark, sondern nur gemeinsam schwach.
Heute aber geschah etwas ganz Seltsames. Nicht nur Amber stand auf und folgte ihrem Sohn, sondern auch Saleem und Aluunda. Sogar Emilia wollte aufstehen, doch Steve hielt sie am Arm fest.
»Du bleibst«, befahl er. Die Kleine sah von ihrem Vater zur Mutter und zum Bruder, bis Jonah schließlich sagte: »Hör auf ihn, Emilia. Er ist dein Vater.«
Dann schickte er seiner Schwester einen Luftkuss und ging diesmal viel weniger traurig hinaus auf seinen Strafplatz.
Am nächsten Tag kam Ralph Lorenz und betrachtete eine Wunde, die sich einer der Arbeiter mit einem Werkzeug am Unterschenkel beigebracht hatte.
»Der Schnitt ist nicht tief, doch die Wunde muss desinfiziert werden«, erklärte der Arzt und suchte in seinem Koffer nach Jod. Jonah stand neben ihm und beobachtete alles, was er tat.
Ralph Lorenz öffnete jedes Fach, kramte auf dem Boden herum, suchte und suchte, doch er
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