Unter dem Vampirmond 01 - Versuchung
werden wir von hier wegziehen und nie wieder nach Minnesota zurückkehren. Vielleicht werden wir viele Jahre lang überhaupt nicht nach Amerika zurückkommen.«
» Was sollte daran schlecht sein?«, fragte ich.
In ein anderes Land zu ziehen, klang absolut aufregend. Ich verstand deshalb nicht, warum sie das wie eine Warnung sagte.
» Du würdest deinen Bruder nicht wiedersehen können«, erklärte Mae sanft. » Selbst wenn wir hierblieben, könntest du höchstens von Weitem dabei zusehen, wie er älter wird. Ich habe das Leben meiner Familie immer nur als Zaungast mit verfolgt, ohne je Kontakt mit ihr aufzunehmen. Du wirst nie wieder mit Milo sprechen können, nachdem du verwandelt wurdest.«
» Aber …« Ich verstummte und suchte nach einem überzeugenden Argument, mit dem ich ihr widersprechen konnte. » Aber er hat euch doch alle kennengelernt! Warum sollte ich ihm nicht einfach erzählen können, was ihr seid – was ich sein werde? Er würde es verstehen. Und er würde keinem davon erzählen.«
» Einem Menschen davon zu erzählen, hieße nur, ihm das Leben schwerer zu machen«, sagte Mae ernst. » Wenn du dich gegen das Leben als Vampir entscheiden würdest, oder wenn wir es dir nie angeboten hätten, kannst du dir vorstellen, wie du dich dann fühlen würdest? In ein oder zwei Jahren würden wir aufbrechen und dich zurücklassen. Und du würdest wissen, was wir sind und dass wir existieren. Jedes Mal, wenn du dich in einen Jungen verliebst, wirst du dich fragen, ob du es nur tust, weil er ein Vampir ist. Du wirst älter werden und dich fragen, wie es wohl gewesen wäre, für immer jung zu bleiben. Und du wirst dich fragen, ob du dir das alles nur ausgedacht hast und an deinem Verstand zweifeln.«
» Aber glaubst du denn, es wäre besser für Milo, wenn er glauben würde, ich sei ermordet oder entführt worden?«, fragte ich ungläubig. » Wäre das wirklich die bessere Alternative?«
» Du willst ihn nicht sterben sehen, Alice!«, beharrte Mae mit Tränen in den Augen. » Ich weiß, dass du deinen Bruder nicht auf exakt dieselbe Weise liebst, wie ich meine Tochter liebe, doch schon Philips Tod war für mich unerträglich. Es ist schwer, sie zurückzulassen, es ist so unglaublich schwer, und dich wird immer die Frage quälen, ob es richtig war. Doch du hast keine andere Wahl. Die Unsterblichkeit verlangt von dir, dass du alles zurücklässt.«
» Erwartest du also von mir, dass ich auf alles, was ihr mir anbietet, verzichte, weil Milo sterben wird? Er wird auch so sterben! Selbst wenn ich ein Mensch bleibe, wird er nicht ewig leben!«, konterte ich. » Aber du und Jack und Peter werdet ewig leben. Ich wüsste nicht, wie ich zu meinem alten Leben zurückkehren könnte, wenn ich doch weiß, dass es euch gibt und ich nicht bei euch bin.«
» Ich wollte nur, dass du es dir bewusst machst«, sagte Mae und sah mich dabei ernst an. » Es ist notwendig, dass du genau weißt, worauf du dich einlässt. Es ist nicht fair, dir etwas anzubieten, das du nicht verstehst. Ich wollte dir die Möglichkeit geben, nicht denselben Fehler zu begehen, den ich begangen habe.«
» Soll das heißen, du willst nicht, dass ich zum Vampir werde?«, fragte ich erschrocken.
» Nein, nein, natürlich nicht, Liebes.« Sie streckte die Hand aus und streichelte mir sanft über die Wange. » Ich würde mir nichts mehr wünschen, als dir bis in alle Ewigkeit dabei zuzusehen, wie du dich in die bezaubernde Frau verwandelst, die du gewiss sein wirst. Doch ich kenne besser als jeder andere den Preis für das Leben als Vampir. Und ich möchte verhindern, dass du leidest.«
» Aber auch als Mensch werde ich Leute sterben sehen«, argumentierte ich. Sie nahm ihre Hand von meiner Wange, ließ jedoch ihre traurigen Augen auf mir ruhen. » Ich würde als Mensch sogar noch häufiger mit dem Tod konfrontiert sein, als ich es als Vampir wäre. Zumindest werdet ihr nicht sterben.«
» Das stimmt. Aber das macht es nicht leichter, deinen Bruder zu verlassen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Dann startete sie den Motor, wendete und fuhr weg vom Haus ihrer Tochter. » Ich dachte nur, du solltest es wissen und darüber nachdenken.«
» Danke.« Ich sank tiefer in den Sitz und starrte in die Dunkelheit hinaus, wo Häuser und Bäume an uns vorüberzogen. Mae sang leise die Lieder mit, die aus der Stereoanlage drangen, und versuchte so, ihre Traurigkeit zu vertreiben, bevor wir nach Hause kamen. Sie hatte mich vor eine unmögliche Wahl gestellt.
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