Unter dem Vampirmond 01 - Versuchung
das alles erzählte, und meine Vermutungen gingen in Richtung Samuels Grabstein. Wahrscheinlich wollte sie mir erklären, wie unerträglich schmerzvoll es für einen Menschen ist, wenn er alles um sich herum überlebt.
Aber sie hatte ihr Baby auch als Mensch überlebt. Das hatte nichts mit der Entscheidung zu tun, zum Vampir zu werden.
» Nichtsdestotrotz.« Mae starrte geradeaus und umklammerte das Steuerrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. » Philip – Gott hab ihn selig! – blieb an meiner Seite, wo ein anderer Mann mich auf ein Schiff gesetzt und zu meinen Eltern zurückgeschickt hätte.
» Schließlich schaffte ich es, meine Depressionen zu überwinden und mein Leben wiederaufzunehmen. Ich arbeitete in einem Lebensmittelladen, um mich beschäftigt zu halten, und fand einige Freunde. Und eines Tages entschloss ich, dass es an der Zeit sei, es noch einmal zu versuchen.
» Schwanger zu sein, war das Wunderbarste, was mir je passiert war. Dieses kleine Leben zu spüren, das in mir heranwuchs …« Ihr Blick war selig, als sie davon sprach, wurde dann aber ernst, als sie sich zu mir wandte. » Das ist etwas, was du aufgeben wirst, dessen musst du dir im Klaren sein. Vampire können nicht schwanger werden und Kinder bekommen. Du wirst niemals eine Familie haben, wenn du dich für dieses Leben entscheidest.«
» Ich glaube sowieso nicht, dass ich einmal Kinder haben möchte.« In Wahrheit hatte ich darüber noch nicht wirklich nachgedacht, aber die Vorstellung, ein Kind zu haben, war mir nie sehr erstrebenswert erschienen.
» Nun, vielleicht änderst du deine Meinung, sobald du die Möglichkeit dazu nicht mehr hast«, antwortete Mae. » Du solltest gut darüber nachdenken.«
» Das werde ich«, versprach ich ihr, obwohl ich nicht glaubte, dass es mich in meiner Entscheidung beeinflussen würde.
Selbst wenn sie recht hatte und ich es eines Tages bedauern sollte, keine Kinder bekommen zu können, konnte ich meine Entscheidung dennoch nur jetzt treffen, auf der Basis meiner jetzigen Gefühle. Und momentan schien es für mich nicht wichtig, Kinder zu haben.
» Der Tag, an dem meine Tochter zur Welt kam, war der glücklichste meines Lebens«, sagte Mae mit einem breiten Lächeln und Freudentränen in den Augen. » Sie war so wunderschön. Sie hatte große blaue Augen, genau wie Philip, weiche, flaumige Löckchen, wie auch ich sie hatte, als ich geboren wurde. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich sie zum ersten Mal im Arm hielt, an das sanfte, warme Gewicht ihres kleinen Körpers … Ich versprach ihr, dass ich sie immer beschützen würde.« Sie seufzte schwer, und in ihre Augen kehrte die Traurigkeit zurück.
» Ich habe sie Sarah genannt, nach meiner Mutter.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. » Jeder Tag mit ihr war wie im Paradies. Ich bin sicher, jede Mutter hält ihr Kind für perfekt, aber sie war es wirklich. Sie weinte kaum und erwachte mit jenem wunderschönen Lächeln auf ihren pausbäckigen Wangen. Ich gab meinen Job in dem Lebensmittelladen auf, um möglichst viel Zeit mit ihr verbringen zu können. Jeder Augenblick mit ihr war so unendlich kostbar. Als ich eines Abends das Abendessen vorbereitete, merkte ich, dass wir keine Milch mehr hatten«, fuhr Mae fort. » Wir ließen uns die Milch von einem Mann ins Haus liefern, doch mit dem Baby ging die Milch schneller aus als normal. Sarah war fast zwei, und ich hatte noch nicht lange aufgehört, sie zu stillen. Philip war gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen, sodass ich ihn nicht gleich wieder fortschicken wollte. Außerdem war der Laden ganz in der Nähe, und es war ein schöner Abend. Ich erinnere mich daran, jenes schöne Frühlingskleid mit dem blauen Blumenmuster getragen zu haben, das ich selbst genäht hatte. Es war eines meiner Lieblingskleider, und ich hatte vorgehabt, mehr Stoff zu kaufen und für Sarah das gleiche Kleid zu machen.«
Sie schwieg eine Weile, und ich dachte schon, sie würde nicht weitersprechen, weil es zu schmerzvoll für sie war, doch schließlich fuhr sie fort.
» Er war so attraktiv, dass ich ihm überallhin gefolgt wäre«, sagte Mae bitter, wobei sie mit sich selbst verärgerter schien als mit ihm. » Ich war kaum einen Block weit gekommen, als er plötzlich wie aus dem Nichts heraus vor mir stand. Im Nachhinein betrachtet, war er nicht halb so gut aussehend wie Ezra, aber für mein menschliches Empfinden war er ein Adonis. Ich leistete nicht einmal Widerstand. Als er
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