Unter dem Vampirmond 01 - Versuchung
schärfer und frei von jeglicher Erleichterung, mich zu sehen.
Milo musste ziemlich ärgerlich darüber gewesen sein, dass ich nicht da war, zumal er sich deshalb schon am frühen Morgen mit Mom herumschlagen musste. Doch er war zumindest erleichtert gewesen, zu sehen, dass ich noch am Leben war. (Und es bestand mittlerweile eine sehr reelle Gefahr, dass ich es nicht mehr lange sein würde.)
» Warum hast du nicht auf meine Nachrichten geantwortet?«, platzte es aus Milo heraus. Sicher hatte er versucht, mich per SMS vor Moms bevorstehender Schimpftirade zu warnen.
» Sorry. Mein Handy war auf lautlos gestellt.«
» Das sagt mir noch nicht, wo du gewesen bist!«, schnauzte Mom.
Die Sonne strahlte mittlerweile über das Gebäude nebenan, sodass das Licht, das zum Fenster hereinschien, den zornigen Ausdruck auf ihrem Gesicht enthüllte. Sie nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette und wartete ungeduldig auf eine Antwort, die erklären konnte, wo ich mich an einem Schultag bis sieben Uhr morgens herumgetrieben hatte.
» Ich war bei Jack.« Ich kreuzte die Finger in der Hoffnung, dass ihre Schwäche für ihn noch so stark war, dass wenigstens noch eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte für mich heraussprang. Stattdessen wurde ihr Blick nur noch finsterer, und ich wusste, ich hatte verspielt.
» Du treibst dich die ganze Nacht draußen herum und hast Sex mit einem Jungen, der viel zu alt für dich ist, und ich soll dabei tatenlos zuschauen?« Ihre Worte wurden immer lauter und steigerten sich am Ende zu einem Brüllen.
» Ja«, antwortete ich ausdruckslos.
Ich hatte ohnehin keine Chance, sie in ihrem Ärger zu besänftigen, also versuchte ich es erst gar nicht. Milo sah mich fragend an, wobei ich nicht wusste, ob er sich über meine offensichtliche Selbstmordneigung wunderte oder sich fragte, ob ich tatsächlich mit Jack Sex hatte. So wie ich ihn kannte, war es bestimmt beides.
» Alice!« Mom sprang auf und zeigte mit dem Finger auf mich. » Zieh dich um und sieh zu, dass du in die Schule kommst!«
» Nein!«, protestierte ich. » Ich bin müde! Ich will schlafen!«
» Alice, ich glaube wirklich, du solltest auf sie hören«, flüsterte Milo mir flehend zu.
» Ich bin auch müde, weil ich die ganze Nacht auf dich gewartet habe! Und wenn du glaubst, du kannst dich ungestraft bis in die Morgenstunden draußen herumtreiben, nur weil du jetzt einen Freund hast, dann irrst du dich gewaltig! Solange du unter meinem Dach wohnst, befolgst du meine Regeln!« Sie war so zornig, dass ihre Augen immer weiter aus den Augenhöhlen hervortraten. Doch nach allem, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte, schien sie mir plötzlich gar nicht mehr so Furcht einflößend.
» Schön. Dann werde ich eben nicht mehr unter deinem Dach wohnen«, sagte ich schulterzuckend.
Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis ich bei Jacks Familie einziehen würde oder starb, also konnte ich ebenso gut auch gleich umziehen. Ich war sowieso kaum noch daheim. Zwar hatte ich weder mit Jack noch mit Mae darüber gesprochen und wusste deshalb nicht genau, wie sie darauf reagieren würden, aber ich riskierte es trotzdem.
» Alice!«, zischte Milo.
» Du bist noch keine achtzehn, kleines Fräulein!«, antwortete Mom, ohne zu zögern. » Du wirst also gar nirgends hingehen. Oder ich zeige deinen süßen Freund wegen Unzucht mit Minderjährigen an.«
» Das würde nichts bringen«, sagte ich. » Warum willst du überhaupt, dass ich bleibe? Ich bin ständig weg und koste dich nur Geld. Ich meine, du hast mich die ganze letzte Woche, wenn’s hochkommt, fünf Minuten zu Gesicht bekommen. Wozu willst du mich da hierbehalten?«
» Du hast das alles schon ausgeknobelt, was?« Mom zuckte mit den Schultern. » Du hast einen Freund mit ein bisschen Geld, der sich von jetzt an um dich kümmert, hm? Ist es das, was du denkst? Nun, du hast es vielleicht vergessen, aber ich hatte auch einmal so einen Freund. Und weißt du, was ich jetzt davon habe? Zwei undankbare Kinder, und keinen verdammten Pfennig Unterhalt von ihm! Also versuch mir nicht, Dinge zu erklären, von denen du keine Ahnung hast!«
» Ich möchte dir überhaupt nichts erklären! Ich sage nur, dass ich eine Last für dich bin! Du willst mich nicht hierhaben, ich will nicht hier sein, warum bin ich also noch hier?«, sagte ich trotzig und schien sie damit hart getroffen zu haben, doch es war die Wahrheit. Wir sahen uns fast nie, und sie wusste kaum etwas über mich. Der einzig
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