Unter dem Vampirmond 04 - Schicksal
» Apropos, wie geht es mit deinem Studium voran?«
» Sehr gut«, log ich. Mit Milo hatte ich die drei Kapitel des Geschichtsbuchs durchgenommen, in das Anatomiebuch hatte ich jedoch noch kaum einen Blick geworfen.
» Dann gehe ich mal davon aus, dass du später die Kapitel mit mir durchsprechen kannst«, sagte Ezra. » Im Wohnzimmer wartet außerdem eine Ausgabe von Wer die Nachtigall stört auf dich.«
» Wie bitte? Warum?« Ich rümpfte die Nase. » Das habe ich schon in der zehnten Klasse gelesen.«
» Dann liest du es eben noch einmal.«
Damit war für Ezra die Unterhaltung offenbar beendet, denn er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer. Ich lehnte mich mit einem lauten Seufzer an Jacks Schulter.
» Deinem Studium?« Jack hob eine Augenbraue. » Was soll das denn heißen?«
» Weil ich weder zur Schule gehe noch arbeite, ist Ezra der Ansicht, dass ich eine Aufgabe brauche, um nicht als totaler Dummkopf zu enden.« Ich zupfte Matildas Haare von meiner Jeans. » Er hat zwar recht, was aber noch lange nicht heißt, dass ich davon begeistert wäre.«
» Und was lernst du?«, fragte Jack neugierig.
» Das weiß ich noch nicht genau. Im Moment nur Geschichte und Anatomie und offenbar auch Wer die Nachtigall stört «, antwortete ich mit einer grimmigen Geste in Richtung Wohnzimmer. » Man sollte meinen, dass ein Buch, in dem eine Figur namens Boo Radley vorkommt, mehr Vergnügen bereitet.«
» Das Buch soll nicht Vergnügen bereiten. Es soll zeigen, wie im Menschen Gutes und Böses nebeneinander existieren können und welche Auswirkung diese Erkenntnis auf die Unschuld hat«, erklärte er und lachte über meinen verblüfften Blick, den ich ihm daraufhin zuwarf. » Du vergisst wohl, dass ich Englisch als Hauptfach hatte?«
» Ja, manchmal«, gab ich zu. » Warum arbeitest du dann eigentlich für Ezra und unterrichtest nicht oder machst sonst etwas, was mit deinem Abschluss zu tun hat?«
» Mit Unterrichten ist kein Geld zu verdienen.« Er lachte, küsste mich auf die Schläfe und ging erneut an den Kühlschrank. » Sorry, aber ich bin immer noch ziemlich durstig.«
» Tut mir wirklich leid«, entschuldigte ich mich erneut. Mein Magen war dagegen übervoll, beinahe aufgebläht, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass ich ihm viel zu viel Blut entnommen hatte. Und ich konnte mir wirklich nicht erklären, wie Jack sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.
» Eigentlich habe ich überhaupt keinen Abschluss.« Nachdem er sich eine weitere Konserve geholt hatte, drehte sich Jack wieder zu mir und fuhr, an die Edelstahltür des Kühlschranks gelehnt, fort: » Und ich glaube auch nicht, dass ich Lehrer werden wollte. Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich mochte Englisch, das ist alles.«
» Was wolltest du denn als Kind werden?« Ich rutschte auf der Arbeitsplatte weiter nach hinten und schlug die Beine übereinander.
» Batman.« Er öffnete lachend die Blutkonserve. » Oder Luke Skywalker.«
» Sehr realistische Ziele.«
» Nein, im Ernst. Ich glaube, ich wollte Schriftsteller werden. Oder Musiker. Oder etwas in der Richtung.« Er zuckte mit den Schultern und starrte auf die Konserve in seiner Hand, als überlegte er, ob er davon trinken sollte oder nicht. » Eine Weile wollte ich Bibliothekar werden. In der Highschool las ich für mein Leben gern. Ich schloss mich zum Lesen in meinem Zimmer ein und machte nebenher Mixtapes für eine echt heiße Cheerleaderin, die nicht einmal wusste, dass ich existierte. Ich war damals wie Duckie Dale in Pretty in Pink .«
» Ehrlich?« Ich lachte. » Ich hatte mir dich immer eher wie Andrew McCarthy vorgestellt.«
» Nun, damit lagst du ziemlich falsch«, sagte er lächelnd. » Ich hatte so schreckliches Strubbelhaar wie Robert Smith von The Cure, benutzte schwarzen Eyeliner, wenn ich ausging, und verschlang einen Comicroman nach dem anderen«, erklärte Jack. » Alan Moore hat ein paar wirklich coole Sachen veröffentlicht, als ich in der neunten oder zehnten Klasse war. Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal die brandneue Ausgabe von Die Wächter in Händen hielt und mir dachte: › Das will ich machen.‹«
Er nahm einen Schluck aus der Konserve und legte einen Fuß über den anderen.
» Ich war nie gut im Zeichnen«, sagte er. » Also tat ich mich mit einem Kumpel zusammen, der es konnte. Und so entstand eine echt düstere Comicserie, die auf Edgar Allen Poes Die Maske des Roten Todes basierte. Um
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