Unter dem Zwillingsstern
Blick auf Marti n a, die kaue n d aufgestanden war, um an d e m Radio heru m zuspielen und einen neuen Sender einzustellen.
»Du hast es eilig, m i ch loszuwerden.«
Mit einem Ruck setzte Robert d e n Becher voll Milch ab, aus d e m er gerade trank.
»Nein. Es dreht m ir nur den Magen u m , wie du hier behandelt wirst.«
»Nicht anders als alle ander e n Juden auch«, sagte Dr. Gold m ann lei s e. Vi e ll e icht war es n i cht der richtige Zeitpunkt, aber er hatte dieses spezielle Gespräch schon sehr lange hinausgeschoben. »Robert, hast du dir eigentlich überlegt, ich m eine, bist du dir im klaren, wer hier früher gewohnt hat? W arum du diese W o hnung so schnell und so günstig bekommen hast? W arum die Mietpreise in München jetzt überhaupt so viel günstiger sin d ? Ich weiß, daß du einer Reihe von Leuten hilfst, aber was ist m it d e n anderen, denen, die du nicht kennst? Du nimmst die Vorteile wahr, die sich aus ihrer… Behandlung ergeben, und, verzeih m i r, ich frage m i ch m anch m al, ich frage m i ch… wenn es m i ch und ein paar von deinen Freunden nicht gäbe, würde es dich dann überhaupt stören, was hier vorgeht ? «
Als er endete, wurde er sich bewußt, wann der Keim für diesen häßlichen Verdacht, der ihn quälte, gelegt worden war; bei dem Gespräch m it Käthe in Paris vor drei Jahren. Er empfand Bestürzung und Sch a m , denn er hatte es für un d enkbar gehalten, daß sein Glaube an Robert je brüchig werden kön n te. Auch ohn m ächtiger Zorn auf das Regi m e m i schte sich darunter, d as ei n e s o l c he Situ a tion m öglich ge m acht hatte. Aber ein m al ausgesprochen, konnte er seine W orte nicht m ehr zurückneh m en, und er m u ßte die Antwort wissen.
Robert schaute ihn nicht an, er s t arrte an ihm vorbei auf die Wand, an die Monika einige von Martinas Zeichnungen gehängt hatte. Die Fingerknöchel der Hand, die sich um den Becher schloß, waren weiß. Die sonst so har m onische Stim m e k l ang heiser, als er antwortete.
» W aru m , g l aubst du, bin ich eigentlich noch hier? Oh, sicher, ich genieße es, berüh m t zu sein, ich übe m einen Beruf ausgesprochen gern aus, aber das könnte ich auch anderswo haben. Und ich wäre gegangen, schon aus dem rein egoistischen Grund, besser arbeiten zu können, wenn ich dabei nicht ständig über m eine Schulter sehen muß. W as willst du v o n m ir Sc h uldgefühle wegen der g anzen Ungeheuerlichkeit, wegen jedes Opfers von Ossietzky bis zu den Vorbesitzern dieser W ohnung? Tut m ir leid, Dada, m eine Kapazität für Schuldgefühle ist b ereits völlig aus g eschöpft von den Menschen, die ich kenne, dich eingeschlossen. W a s den Rest angeht«, er wandte seinen Kopf Dr. Goldmann zu, der erschrak, denn er hatte die braunen Augen noch nie so kalt ges e hen, »die Z ahlen, die Namen ohne Gesichter, ich b e m ühe mich, zu ver g essen, daß es sie gibt. Das bringt m i ch durch den Tag, und m it etwas Glück bringt es jeden einzelnen Menschen, an d e m m i r e t was liegt und der noch in Freiheit ist, durch das verda mm te Dritte Reich.«
Martina ließ das Drehen am Knopf des Radios sein, nachdem sie alle Arten von Stim m e n, Liedfet z en und krächzenden Geräuschen ausgeschöpft hatte, und kehrte zu dem Tisch zurück. Sie war geübt darin, einen Streit zu erkennen, und gerade ihren Vater hatte sie oft streiten sehen; sie wußte, wann es um etwas Ernstes ging. Wenn er m it seinen Freunden schi m p fte und gelegentlich m it Papierbällen nach ihnen warf, war e s nicht ernst, aber so, wie er jetzt dasaß und redete, so schaute er aus, bevor M a m a sich in ihr Zim m er einsc h loß und weinte. Nur daß es dies m al nicht Ma m a traf, sondern Dada Gold m ann. Erneut kletterte sie a u f den Stuhl neben ihrem Vater, doch beide Männer ignorierten sie.
»Laß das nicht m it dir geschehen, Robert«, bat Dr. Gold m ann, selbst von Schuldgefühlen gequält. »Laß dich nicht dazu bringen, Menschen als Zahlen zu sehen, nur weil du sie nicht kennst, so wie sie es tun. Ganz gleich, was m it mir passiert, du m ußt d a s Übel an sich hassen, nicht die einzelnen Auswirkungen.«
Robert verzog das Gesicht; die Kälte verschwand und m a c hte einem vertrauteren Sarka s mus Platz. »D as Übel an sich… ha s t du auf ein m al die Reli g ion für dich ent d eckt?«
»Möglicherweise etwas Metaphysik. Ich hielt m i ch i mmer für einen rundum skeptischen Agnostiker, aber wenn ein ganzes Land seine Seele verliert, dann stim m t e i nen das
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