Unter dem Zwillingsstern
sie scheute vor dem Ausdruck »Volk« zurück.
Constanze Hallgarten zuckte ratlos die Achseln. Nun, es gab nur eine Möglichkeit, m ehr herauszufin d en. Sie verabschiedete sich von Constanze und nahm d i e nächste T ra m bahn zum Marienplatz. Von Station zu Station wurden die W ag e n voller, aber das war alles noch nichts gegen die Massen, die sie durch die G l asscheiben sah. Die Bahn fuhr langsa m er und langsamer, weil so viele Leute auf den Schienen liefen. Endlich kam sie ganz zum Stehen. Käthe drängte sich durch d ie übrigen Mitfahren d en, um ins Freie zu gelangen und etwas Luft zu schöpfen; sie hatte das Gefühl, von der Masse an Mänteln, Hüten und Fleisch bald erstickt zu werden. Doch als sie vor der Einstiegstür den Kopf hob, vergröß e rte sich das Gefühl der Übelkeit nur. Vom Rathaus flatterte die H a kenkreuzfahne, und in der Mitte des Platzes stand, eskortiert von z w ei Bewaffneten, ein Individuum das sie vage als ein e n gewissen J u lius Streicher erkannte, der von sich behauptete, Journalist zu sein auf einem Auto und schrie in die Menge.
Am m eisten erschreckte sie, d a ß die Leute i h m Bei f all zollten. Durch das allge m eine Klatschen und Rufen verstand sie nur einzelne Satzfetzen: »Nov e m berverbrecher alle verhaftet neue Regierung!«
»Nieder m it den Sozis!« schrien die Menschen um sie zurück.
»Hoch Ludendorff!«
Sie sah sich vergeblich nach der Polizei u m , von der Constanze gesprochen hatte. Inzwisc h en schrie der Mann auf dem Auto etwas von »jüdischer Weltverschwörung«, und i h re Ü belkeit erreichte ein Höchst m aß. In m itten der begei s terten Zuhörer ü b ergab sie sich.
»Passen S’ doch auf!« zischte der Mann neben ihr, aber eine Frau, die schräg hinter ihr stand und sich schon die ganze Zeit gegen ihren Rücken gepreßt hatte, u m eine bessere Sic h t zu erhasc h en, m einte m ißtrauisch: »Sie, was soll denn das ? «
»Aufhören!« herrschte ein anderer N achbar.
Käthe hätte liebend gerne aufgehört, aber ihr war wirklich übel, sie würgte und würgte, ihre Knie zitt e rten, und die feindseligen S tim m en um sie herum steigerten ihren Brechreiz nur. Plötzlich rief je m and:
»Die Frau ist krank, sehen Sie das denn nicht? Lassen Sie m i ch durch, ich bin Arzt!«
In die Men s chentraube, die sie un m ittelbar u m gab, k a m Bewegung. Käthe spürte eine Hand auf ihrer Stirn, schaute auf und erkannte den sehr ernst dreinblickenden Dr. Goldmann.
»Sie m uß auf der Stelle in ein Krankenhaus«, sagte er laut. »Ko mm en Sie.«
Er legte einen Arm um ihre Sch u lter und zog sie in R i chtung Kaufingerstraße. Sein professionelles Auftreten und die anerzogene Ehrfurcht vor den »Studierten« taten i h re W irkung; m an ließ sie in Ruhe. Erst am Stachus hatte s ich die M e n ge so weit aufgelockert, daß sie eine Kolonnadensäule fanden, gegen die sie sich lehnen könnte, und erst da ließ er sie los.
»Es geht schon wieder«, sagte Kät h e, nachdem sie ein paar m al ti e f ein- und ausgeat m et hatte.
» W as um alles in d e r W elt ist d e nn in Sie g e f ahren, Fr ä ulein Brod«, sagte Dr. Goldmann heftig, »d a ß Sie heute hier sind? Das ist doch völlig m eschugge!«
»Und Sie ? « fragte sie zurück, nic h t so ungehalten, wie sie es nor m alerweise gewesen wäre. Zum einen fühlte sie sich noch leicht zittrig, und zum anderen entwaffnete sie der Ausdruck, den sie seit ihrer Kindheit nicht m ehr gehört hatte, etwas. Dr. Gold m ann m it seinem sorgfältig gepflegten Sprachduktus m ußte wirklich sehr aufgeregt sein.
»Ein Patient von m i r wohnt hier in der Nähe.«
»Am Marienplatz?« gab sie skeptisch zurück.
»In der Nähe«, wiederholte Dr. Gold m ann und lächelte plötzlich.
»Außerdem war ich zugegebener m aßen neugierig, bis m i r die Lage klarwurde. Aber Sie sollten wirklich nicht h i er s ein. Am Odeonsplatz ist die Polizei auf m arschiert. W enn die Reden erst aufgehört haben…«
Er schlug ihr vor, sie nach Hause zu bringen. Käthe schwankte noch einen Mo m ent zwischen ihr e m journalistischen Instinkt und ihrem W un s ch, unverletzt zu bleib e n. Aber wenn die Nazis das Gebäude der Münchner P ost t a tsäc h lich so verwüstet h a tten, würde es ohnehin ein paar W ochen dauern, b i s wieder eine Ausgabe erscheinen konnte.
»Ich m uß sagen«, be m erkte Dr. Gold m ann, während sie am Mathäser vorbei in Richtung Bahnhof liefen, in der Hoffnung, dort eine Taxe zu finden, »Sie sind von allen radikalen
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