Unter den Sternen von Rio
ich das nicht gemeint. Mir ist klar, dass es sich um etwas Schwerwiegendes handeln muss, sonst hätte es dich nicht so aus der Fassung gebracht.«
Ana Carolina liefen die Tränen übers Gesicht. Ihr Vater reichte ihr ein Taschentuch und klopfte ihr aufmunternd auf den Rücken. »Lass es heraus, Schatz. Oft hilft es schon, wenn man ein Problem nicht länger allein mit sich herumträgt.«
»Es sind drei Probleme, um genau zu sein«, sagte Ana Carolina in trotzigem Ton und zog die Nase hoch. »Er ist Henriques Freund. Er ist ein Carvalho. Und er ist verheiratet.«
So, nun war es heraus. Offenbar war sogar ihr Vater erschrocken angesichts der Tragweite dieser Offenbarung, denn endlich hörte er auf, ihr auf den Rücken zu klopfen.
20
A ugusto dachte lange über das nach, was ihm neulich während des Gesprächs mit Bel durch den Kopf gegangen war.
Ich bin vielleicht nicht auf einem Gebiet richtig brillant – aber dafür bin ich auf richtig vielen Gebieten gut.
Es stimmte. Wenn es ebenfalls stimmte, dass, wie Bel behauptete, diese Vielseitigkeit ein enormer Vorteil war, dann sollte er sich eigentlich an ihr ein Beispiel nehmen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Dennoch war er im Grunde seines Herzens nicht davon überzeugt, dass seine Fähigkeiten ihn irgendwie über den Durchschnitt erhoben. Es gab Leute, die besser rechneten, und solche, die handwerklich begabter waren, es gab viele, die schöner schrieben als er, und einige, die auf dem Markt raffinierter handelten. Was konnte er schon Besonderes?
Dass gerade die Vielzahl seiner halbwegs ausgeprägten Talente das Besondere sein sollte, konnte er nicht so recht glauben. Und wie sollte er dann je andere davon überzeugen? Sollte er sich bei einem Bewerbungsgespräch dem potenziellen Arbeitgeber etwa so vorstellen: »Ich kann halbwegs rechnen
und
ganz gut schreiben
und
einigermaßen feilschen
und
stelle mich handwerklich meistens geschickt an
und
bin ein bisschen musikalisch
und
bin nicht schlecht darin, mich überall durchzuwursteln«? Er würde nichts als höhnisches Gelächter ernten! Da blieb er doch lieber der Laufbursche beim Film. Konnte er da nicht am besten seine vielen Halbfähigkeiten einsetzen?
Am Set traten häufig unvorhergesehene Pannen auf. Da wurde von ihm verlangt, »mal eben schnell« ein paar neue Torten zu beschaffen, die die Schauspieler einander ins Gesicht klatschen konnten. Oder man beauftragte ihn damit, den abgebrochenen Absatz eines Damenschuhs zu reparieren, und zwar hurtig. Manchmal musste er den Seelentröster geben, denn in seiner Gegenwart öffneten sich die Schauspieler, wenn sie traurig und ungeschminkt in ihrer Garderobe saßen. Dann wieder waren seine technischen Kenntnisse gefragt, wenn zum Beispiel eine Lampe durchbrannte, oder man schickte ihn los, um einen Imbiss für alle zu besorgen. Ein paarmal hatte er auch schon den Souffleur gegeben, denn obwohl es beim Stummfilm nicht so sehr auf den korrekten Text ankam, war es für das Spielen einer Szene einfacher, man hielt sich an die vorgegebenen Dialoge. Und die kannte Augusto alle auswendig, denn sein Gedächtnis für Texte war ausgezeichnet.
Es war eine abwechslungsreiche Arbeit, die Augusto Spaß machte. Er sah viel, und er lernte noch mehr. Er hatte mit interessanten Menschen zu tun und erlebte jeden Tag etwas Neues. Seine Arbeit hatte allerdings zwei Nachteile. Erstens war die Bezahlung miserabel, und zweitens war sie nicht gut angesehen. Er würde, egal wie sehr er sich anstrengte, immer nur der Laufbursche sein. Von allen gut gelitten, unentbehrlich, aber von keinem wirklich ernst genommen. Solange er jung und ledig war, konnte er sich damit abfinden. Er brauchte nicht viel Geld, und Anerkennung, nun ja, die brauchte er eigentlich nur von ein paar ganz bestimmten Menschen. Aber würde er die Arbeit auch noch machen wollen, wenn er einmal alt war, also über dreißig? Bis dahin wollte er eine Familie haben, und er war entschlossen, seinen Kindern all das zu geben, was er selber hatte entbehren müssen. Langfristig musste er sich also Gedanken über seine berufliche Zukunft machen. Und kurzfristig eigentlich auch. Wie sollte er Bel jemals beeindrucken, wenn er nicht einmal genug Geld verdiente, um ihr Blumen schenken zu können?
»Augusto, steh nicht faul herum!«, hörte er da die Stimme des
patrão,
Senhor Pereira, und schrak aus seinen Gedanken auf.
»Ja, was gibt’s, Chef?«
»Du wirst hier nicht fürs Träumen mit offenen Augen bezahlt. Geh und besorg
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