Unter den Sternen von Rio
guten Aussehens, sondern vor allem dank seiner hohen Abstammung. Welche Frau wäre nicht gern die Frau eines ehemaligen Marquis? Dass das Familienvermögen beträchtlich geschrumpft war und Henrique nicht aus Vergnügen arbeitete, sondern aufgrund wirtschaftlicher Zwänge, wussten die meisten nicht. Und ihr selbst war es einerlei. Da hielt sie es ausnahmsweise ganz mit ihrer Mutter: »Geld haben wir selber mehr als genug. Er hat den Namen, das Aussehen und einen guten Charakter. Und ein Ingenieur in der Familie kann auch nie schaden.«
Ebenso wenig schadete es wohl in den Augen ihrer Eltern, dass der zukünftige Schwiegersohn an einem Projekt beteiligt war, das Ruhm und Ehre versprach: Henrique wirkte maßgeblich an der Errichtung der riesigen Christusstatue mit, die den Gipfel des Corcovado zieren würde. Eigentlich hätte die kolossale Figur bereits 1922 dort oben enthüllt werden sollen, sozusagen als Krönung der Festlichkeiten zum 100 . Jahrestag der Unabhängigkeit Brasiliens. Aber sie lebten nun einmal in einem Land, das trotz allen Fortschrittsglaubens noch immer weit hinter den Industrienationen herhinkte. Streitigkeiten über die Gestaltung der Statue sowie Geldmangel hatten die Bauarbeiten verzögert.
So war es nun auch ein technisches Problem bei der Beförderung eines immensen Granitblocks, das Henriques Anwesenheit auf der Baustelle erforderte. Da er stolz auf sein Mitwirken an dem großartigen Projekt war, nutzte er jede Gelegenheit, um seine Verlobte mit auf den Gipfel zu nehmen, auch wenn deren Präsenz die Arbeiter befangen machte und sie ablenkte.
Ana Carolina liebte diese Ausflüge auf den Berg. An hochsommerlichen Tagen, wenn die Temperaturen unten in der Stadt auf 40 Grad steigen konnten, wenn kein Lüftchen ging und man meinte, sich in einem Dampfkessel aufzuhalten, war es auf dem Corcovado erfrischend kühl und immer ein wenig windig. Und dann die Aussicht! Aus über 700 Meter Höhe wirkte Rio wie ein phantastisches Gemälde. Die Stadtteile, die sich zwischen Berge und Strände schmiegten, die Schiffe in der Guanabara-Bucht, die Brandung des Atlantiks im Süden, die ausgedehnten Wälder im Osten sowie die Lagune und der Jóquei Clube zu ihren Füßen, all das wirkte von oben so malerisch, so ruhig und beschaulich. Sobald man dem Hitze-Inferno mit seinen bestialischen Gerüchen und dem ohrenbetäubenden Lärm entkommen war, war Rio das reinste Idyll. Aus der luftigen Distanz konnte Ana Carolina ihre Geburtsstadt bedingungslos lieben.
»Auf dem Rückweg kannst du mal ein Stück fahren, wenn du möchtest. Ich dachte daran, einen kleinen Umweg durch den Tijuca-Wald zu nehmen – an dem Wasserfall könnten wir dann die Füße ein bisschen im Wasser baumeln lassen.«
Erstaunt sah Ana Carolina hinüber zu Henrique. Ihre Lippen verzogen sich zu einem geheimnisvollen Lächeln.
»Also«, fuhr Henrique nervös fort, »natürlich nur, wenn du das auch wirklich möchtest. Ich hätte größtes Verständnis, wenn du, na, du weißt schon, vielleicht doch nicht so viel Mut hättest und …« Er beendete seine Rede, wie so häufig, mit vielsagendem Schweigen.
Und ob sie wollte! Aber es erschien ihr klüger, Henrique gegenüber nicht allzu euphorisch zu wirken.
»Ich weiß dein Angebot sehr zu schätzen,
querido.
Ich schaue mal, wie ich mich nachher fühle.«
Henrique, so wollte es Ana Carolina vorkommen, atmete erleichtert auf. Irgendwie fand sie seine beschützerischen Anwandlungen rührend und lächerlich zugleich. Dass er sie trotz seiner Bedenken ans Steuer seines Fords lassen würde, gefiel ihr dagegen. Es war ein Zeichen für seine Großzügigkeit und seine Verliebtheit – beides Eigenschaften, die sie an ihm mochte und die ihn zum idealen Bräutigam machten.
Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Sie waren an der Station der Zahnradbahn angekommen, und ein anderes Automobil wäre beinahe mit Henriques Wagen zusammengestoßen, als dieser hinter einer Kurve einparkte.
»Es treiben sich wirklich zu viele Rüpel auf den Straßen herum!«, beschwerte Henrique sich. »Wo soll das noch hinführen? Die Anzahl der Automobile ist auf eine unerträgliche Höhe angestiegen, und wenn das so weitergeht, wird es spätestens zum Ende des Jahrzehnts auf den Straßen zum völligen Stillstand kommen.«
»Da hast du wahrscheinlich recht«, gab Ana Carolina zu, während sie ihren Strohhut zurechtrückte und ihr wadenlanges Sommerkleid glatt strich. Ihre Stimme klang dabei nicht so, als mache sie
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