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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sich ernsthafte Sorgen über einen Verkehrskollaps. Eigentlich freute sie sich sogar über die wachsende Zahl der Automobile, denn sie hatte vor, von einer interessanten bevorstehenden Fusion zweier Konzerne zu profitieren und von einem Teil ihrer Mitgift Aktien dieser neuen Daimler-Benz AG zu kaufen. Allerdings fand auch sie, dass es zu viele rücksichtslose Fahrer gab. Es war allerhöchste Zeit für einen Führerschein, der im ganzen Land Geltung hatte, sowie für einheitliche Verkehrsregeln. Solange in einigen brasilianischen Staaten noch Links- und in anderen Rechtsverkehr herrschte, war jeder Ausflug, etwa ins benachbarte São Paulo, eine hochriskante Angelegenheit.
    Ana Carolina hakte sich bei Henrique unter, der ihr bereits den Arm hinhielt. Gemeinsam schlenderten sie zur Station. Eine Fahrkarte brauchten sie nicht zu lösen, da Henrique ja zu den Beschäftigten der Christus-Baustelle gehörte. Sie nahmen im ersten Waggon auf einer der Holzbänke ganz vorn Platz. Da sie mit dem Rücken zu den anderen Passagieren saßen, bekamen sie nicht mit, wer alles zustieg. Aber es interessierte sie auch wenig. Henrique hatte seine Hand wagemutig auf Ana Carolinas Knie gelegt, und sie zeigte ihm ihr Wohlwollen, indem sie ihre Hand wiederum auf seine legte. Ein wenig verlegen sahen beide aus dem Fenster, als gehörten ihre Hände gar nicht zu ihnen. Oben angekommen, würden sie sich küssen können, denn kaum verließ man die Baustelle, war man schon mitten im Wald. Jetzt aber, vor all den anderen Leuten, die langsam den Wagen füllten, war Contenance gefragt.
    Eine Glocke kündigte die Abfahrt der Zahnradbahn an. Dann ruckelte und knatterte es, und das Mobil setzte sich in Bewegung. Ana Carolina empfand die Fahrt immer wieder als aufregend. Es ging so steil bergauf, dass man sein ganzes Körpergewicht auf der Holzbank spürte. Aus den Fenstern sah man meist nicht mehr als dichtes Grün, in das sich gelegentlich Äffchen oder Tukane verirrten. Doch an einigen Stellen passierte die Bahn nackte Felsen, und dort war die Aussicht auf die Stadt grandios. Ein wenig Nervenkitzel war natürlich auch immer mit dabei. Anders als mancher Passagier, der sich entsetzt an die Brust griff oder unauffällig den Schweiß von der Stirn tupfte, empfand Ana Carolina zwar keine echte Angst; dafür war sie schon zu oft hier heraufgefahren. Doch auch sie zweifelte zuweilen am Zugvermögen der Bahn. Wenn man hörte, wie die Zähne ineinandergriffen und wie das Gefährt ächzend die enorme Steigung bewältigte, dann fragte man sich unweigerlich, ob der Mechanismus dieser Aufgabe gewachsen war oder ob die Bahn demnächst ungebremst den Berg rückwärts hinunterrasen würde. Zwar hatte Henrique ihr einmal umständlich die technischen Details erklärt und warum dieser Fall nie eintreten könne, aber so ganz geheuer war Ana Carolina das Ganze immer noch nicht.
    Henrique schob das Fenster auf und nahm seinen kreisrunden, flachen Strohhut ab. Er fuhr sich mit den Fingern durch das verschwitzte Haar und hielt sein Gesicht in den Wind. Die Luft duftete würzig nach Erde und Blattwerk. »Es ist immer wieder wie eine Fahrt aufs Land, nicht wahr? Wer will schon zur Sommerfrische nach Petrópolis, wenn es mitten in der Stadt eine so herrliche Oase gibt?«
    Ich, zum Beispiel, dachte Ana Carolina, behielt es aber für sich.
    Die Stadt Petrópolis, einst Sommerresidenz der brasilianischen Kaiserfamilie, erfreute sich auch fast vierzig Jahre nach Abschaffung der Monarchie regen Zulaufs von den Reichen und Schönen. Sie lag mitten in den Bergen nordöstlich von Rio und lockte die Besucher aus der Hauptstadt vor allem wegen ihres angenehm kühlen Klimas. Ana Carolina hätte die Sommermonate gern dort verbracht, wie schon so viele Male zuvor. Doch in diesem Jahr musste sie auf die glanzvollen Tanztees und Empfänge verzichten: Es galt eine Hochzeit vorzubereiten.
    Ein paar wenige Tage würde sie immerhin erübrigen können. Der Besuch ihrer Cousine Marie aus Paris stand an. Sie würde kurz vor dem Karneval Mitte Februar eintreffen und bis zur Hochzeitsfeier im Mai bleiben. Ana Carolina freute sich unbändig darauf, Marie wiederzusehen – ihr letztes Treffen lag drei Jahre zurück. Und um nichts auf der Welt würde sie Marie irgendeine der Attraktionen in der näheren Umgebung Rios vorenthalten. Vielleicht konnte Rio nicht ganz mit Paris konkurrieren, wenn es um Mode und mondäne Etablissements ging. Aber so schöne Berge, Strände und Wälder wie Rio hatte keine

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