Unter den Sternen von Rio
Wahrscheinlich wurde Bel als »südamerikanische Schönheit« angekündigt oder bestenfalls noch als »brasilianischer Paradiesvogel« oder etwas in der Art. Wie sollte sie sich je einen Namen machen, wenn der Name nicht genannt wurde? Augusto war außer sich und nahm sich vor, den Direktor gleich am nächsten Tag zur Rede zu stellen. Dass der, ein gebürtiger Ungar, entschieden hatte, »Bela« klinge zu ungarisch, konnte Augusto ja nicht ahnen. Und dass man seine Liebste als »Bel de nuit« angekündigt hatte – ein Wortspiel aus ihrem Namen und dem der Wunderblume,
Belle de nuit
–, war ihm entgangen.
Auch sonst war Augusto mit der Show sehr unzufrieden. Die Musiker spielten zwar etwas schneller als bei der Probe, aber noch lange nicht so, dass damit Bels tänzerische Fähigkeiten voll und ganz zum Ausdruck gekommen wären. Das Publikum wirkte gelangweilt, oder es war im Morphiumrausch. Der Saal war ohnehin nur halb voll, und dass die wenigen Zuschauer dann auch noch so desinteressiert an den Darbietungen waren, trug nicht eben zu einer Bombenstimmung bei. Und die Beleuchtung auf der Bühne war das Allerletzte. Sie war so schlecht, dass die schönen tropischen Früchte auf Bels Kopf nicht zum Anbeißen aussahen, sondern eher wie das, was sie waren, nämlich quietschbunte, grelle Attrappen.
Bel schien sich an alldem nicht zu stören. Sie war professionell genug, um ihre Darbietung unverdrossen durchzuziehen. Sie griff so tief in die Klischeekiste, wie sie nur konnte. Sie wackelte mit den Hüften und rollte mit den Augen, wie es nach Ansicht der Weißen alle
Neger
taten, wenn sie Gefühl zeigten – wenn sie sich freuten oder ärgerten oder überrascht waren. Es war beinahe schon die Parodie der Darbietung, die sie im »Casa Blanca« in Rio gegeben hatte, an jenem ersten und letzten Abend in dem Nachtclub, an dem diese Männer … Das schien schon so lange her zu sein. Bel hatte es anscheinend verwunden.
Augusto hatte den Tag mehr oder minder erfolgreich verdrängt, obwohl er die Schuld dafür noch immer sich selber gab. Sogar Bels Vater hatte sich wieder gefangen. Nachdem er die Vergewaltiger einen nach dem anderen in aller Öffentlichkeit angeklagt, sie gedemütigt und dem Richterspruch der Gesellschaft überlassen hatte – der in allen Fällen »schuldig« gelautet hatte –, war er wieder zum Alltag übergegangen, ein friedfertiger, strebsamer Mann, der seinen Rachefeldzug allein und gnadenlos geplant und umgesetzt hatte. Wer ihn sah, würde nie denken, dass er zu einem solch perfiden wie wirkungsvollen Plan überhaupt in der Lage war. Augusto bewunderte seinen Schwiegervater dafür, ja, er verehrte ihn. Er wollte so werden wie er.
Augusto winkte dem Trödler zu, der mit seiner unförmigen Frau erschienen war, als die beiden das Theater bald nach Bels Aufführung verließen. Na schön, dann hatte das Paar die Show eben nicht genossen. Aber das Grammophon war ja auch nicht gerade ein modernes Modell gewesen, sondern hatte so seine Tücken gehabt. Morgen würde er es zurückbringen – und bei der Gelegenheit vielleicht ein oder zwei weitere Wörter Französisch lernen. Der Mann war ja sehr freundlich gewesen. Unbewusst begann Augusto, sich genau wie in Rio sein kleines Netzwerk an Leuten aufzubauen, die ihm von Nutzen sein konnten.
Was er neben dem Erlernen der neuen Sprache noch vorhatte, war, die Konkurrenz zu beobachten und aus ihren Fehlern zu lernen. Bereits in Rio hatte er sich Biographien von Künstlern durchgelesen, die es ganz an die Spitze geschafft hatten und dann tief gefallen waren. In fast allen Fällen waren es Drogen oder Alkoholmissbrauch, die einen Absturz herbeiführten, außerdem ein ausschweifendes Leben sowie schlichtweg Prasserei. Das würde Bel nicht passieren, dafür würde er schon sorgen. Nicht dass er etwas gegen ein wenig Luxus einzuwenden gehabt hätte, ganz sicher nicht. Aber sie würden sich bestimmte Dinge erst dann gönnen, wenn sie es sich auch leisten konnten. Besuche in teuren Restaurants etwa.
Er sah sich noch zwei weitere Darbietungen an, die eines Mannes, der in Frauenkleidern auftrat, sowie die eines Akrobatenpaares, bevor er sich hinter die Kulissen begab, um Bel abzuholen. Sie hatte hier keine Einzelgarderobe, so dass die Gefahr von Übergriffen wie jenem im »Casa Blanca« äußerst gering war. Andernfalls hätte er Bel keine Sekunde aus den Augen gelassen. Er klopfte an und trat ein. Die anderen Sängerinnen, Tänzerinnen und sonstigen Künstlerinnen
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