Unter den Sternen von Rio
denken wollte – von ihrer eigenen Familie belogen worden, weil diese die Verbindung nicht wünschte? Keine dieser Theorien war schön, alle waren entweder verletzend oder rückten António in ein denkbar schlechtes Licht. Dennoch war ihre Freude darüber, dass er lebte, überwältigend. Es war die Art von Freude, die sich nicht darin äußerte, dass sie Luftsprünge machte oder lachte oder feierte, sondern eher ein leises, aber umso bewegenderes Glück, das ihr Innerstes mit Farben erfüllte, wo vorher nur alles grau in grau gewesen war.
Dass er mit dieser Frau zusammen gewesen war, hatte ihr natürlich nicht behagt. Jetzt aber versuchte sie sich selber davon zu überzeugen, dass es wahrscheinlich ganz normal war, wenn ein junger Mann sich, rund zwei Jahre nach ihrer ganz besonderen »Hochzeitsnacht«, eine neue Gefährtin suchte. Trotzdem mochte sie diese Marlène nicht. Sie hätte sie bestimmt auch nicht gemocht, wenn sie sie unter anderen Umständen kennengelernt hätte.
Caro war froh, dass sie allein war. Das Kindermädchen hatte seinen freien Tag, Marie und Maurice hatten einen Ausflug gemacht, und Tante Joana und Onkel Max träfe sie erst am Abend. Sie hatten sie zum Essen eingeladen, zu einem sehr frühen Abendessen, weil der eigentliche Sinn des Ganzen ja darin bestand, dass Tante Joana den kleinen Alfredinho sah. Caro hatte also noch ein paar Stunden, in denen sie in Ruhe über das Geschehene nachdenken konnte. Wobei »Ruhe« sicher nicht das treffende Wort war. Sie war aufgeregt und fahrig und trippelte rastlos in der Wohnung hin und her. Sie entfernte sich dabei nie weit vom Telefon. Würde er sie noch heute anrufen? Noch heute Nachmittag?
Bitte, lieber Gott, lass es jetzt gleich klingeln! Bitte, lieber Gott, mach, dass er
nicht
jetzt gleich anruft!
Denn was sollte sie ihm dann sagen? Wie sollte sie reagieren? Wie sollte sie ihm die Fragen stellen, die ihr auf den Nägeln brannten? Sie musste sich erst fangen. Vielleicht mit jemandem darüber reden, Tante Joana etwa, und ein wenig von dem Druck loswerden, der sich in ihrer Seele aufgebaut hatte.
Sie legte ihren Sohn in sein Bettchen, damit er seine Siesta hielt. Eigentlich hatte sie dasselbe vorgehabt, aber an Schlaf war jetzt wirklich nicht zu denken. Unruhig und lustlos nahm sie die Lektüre eines Buchs auf, das noch neben ihrem Lesesessel lag, doch die Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Sie legte es wieder beiseite und beschloss, ins Bett zu gehen. Vielleicht konnte sie ihren Körper überlisten und ihm Müdigkeit vorgaukeln, wenn sie die Gardinen zuzog und sich in die Decke kuschelte?
Sie schlüpfte gerade aus ihrem Kleid, als das Telefon klingelte.
António wusste, dass er Marlène vor den Kopf gestoßen hatte. Es war ein wunderbarer Sonntag gewesen, voller Sonne, Harmonie und genussvollem Müßiggang, der seinen perfekten Ausklang in seinem Bett hätte finden sollen. Er hatte Lust auf ihren Körper verspürt, Vorfreude auf das Liebesspiel, das bei Marlène von sinnlicher Tabulosigkeit geprägt war und ihn immer aufs Neue überraschte. Und Marlène hatte sicher ähnliche Pläne gehabt, sie war in dieser Hinsicht schier unersättlich.
Doch seine Lust war ihm schlagartig vergangen, als da wie aus dem Nichts diese Vision auftauchte. Caro. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen. Sie lebte! Lebte sogar recht gut, wie es schien, wenn man von ihrer teuren Kleidung Rückschlüsse auf ihren Lebensstil ziehen durfte. Bestimmt hatte sie schließlich doch noch eine passende Partie gefunden, einen reichen Mann, der sie nach Strich und Faden verwöhnte und ihr viele hübsche Kinder machte. António hatte den idiotischen Impuls, diesen ihm unbekannten Kerl zu erschießen. Und sich selber gleich mit.
Wie hatte er nur so dumm sein können, sie gleich wieder ziehen zu lassen? Er hätte darauf bestehen müssen, dass sie sich zu ihnen setzte, dass sie seine dringendsten Fragen beantwortete, dass sie ihm einen genaueren Blick auf sie erlaubte. Er hätte außerdem aufstehen müssen und sie wenigstens mit Küsschen begrüßen sollen. Weshalb war er so hölzern gewesen, so steif und unerträglich verklemmt? Was war über ihn gekommen? War es wegen Marlènes Anwesenheit gewesen? Herrje, warum hatte er sich von etwas so Bedeutungslosem wie der offensichtlichen Rivalität zwischen den beiden Frauen bremsen lassen? Was wirklich zählte, war doch, dass er und Caro sich wiedergefunden hatten, füreinander sozusagen von den Toten auferstanden waren. Wieso hatte
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