Unter den Sternen von Rio
letzte Mal hier gewesen war, ohne dieses Schildchen hätte sie womöglich an der falschen Tür geklopft. Sie legte ein Ohr an den abblätternden Lack, um zu hören, ob sich in der Wohnung schon etwas tat. Es war kein guter Anfang, wenn sie ihre Freundin weckte. Doch das einzige Geräusch, das aus der Wohnung drang, war das rhythmische Quietschen von Metall. Oje, dachte Bel, das wäre ein noch schlechterer Anfang: wenn sie Beatriz bei, ähm, also beim Liebesakt unterbrach, mit wem auch immer. Sie hatte nicht gewusst, dass Beatriz einen Verlobten hatte.
All ihre divenhaften Allüren verließen sie plötzlich. Sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um zaghaft an der Tür zu klopfen. Zu zaghaft offenbar, denn niemand reagierte darauf. Was soll’s, sagte sie sich, und klopfte energischer.
»Pinto, du alter Perverser, wenn du das bist, bringe ich dich um!«, hörte sie Beatriz’ Stimme.
»Nein, ich bin’s. Bel.«
Die Tür wurde geöffnet. Von innen hatte Beatriz eine Kette davorgelegt. Mit verquollenem Gesicht, auf dem sich verschmierte Schminke befand, lugte Beatriz durch den Spalt.
»Gott, Bel! Was machst du denn hier zu dieser unchristlichen Zeit?«
»Ich brauche eine Unterkunft. Ich zahle auch.«
»Ach du liebes bisschen!« Beatriz schloss die Tür, öffnete die Kette und ließ Bel herein.
Bel war, gelinde gesagt, erschrocken über den Anblick, der sich ihr bot, sowohl den der Freundin als auch den der Wohnung. Beatriz hatte sich einen Morgenmantel übergehängt, ihn aber nicht richtig zugebunden, so dass sie praktisch nackt vor Bel stand. Sie hatte blaue Flecken an den Schienbeinen. Ihr Haar war wirr, ihre ganze Erscheinung verwahrlost. Dasselbe galt für die Behausung beziehungsweise für die Diele, die bisher alles war, was Bel gesehen hatte. Es lagen Kleidungsstücke auf dem Boden, es roch nach schalem Rauch und altem Bratfett.
»Es hat sich ja einiges getan, seit ich zuletzt hier war«, sagte Bel mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme.
»Äh, ja, das stimmt«, antwortete Beatriz geistesabwesend. »Willst du einen Kaffee? Komm mit in die Küche, ich koche uns einen.«
In dem Kämmerchen, das wohl die Küche sein sollte, stapelte sich schmutziges Geschirr. Der verdreckte Herd musste erst angefeuert werden, und es dauerte eine Weile, bis Beatriz die Utensilien zum Kaffeekochen zusammengesucht hatte. Eigentlich wollte Bel schon längst nichts mehr trinken, denn die Tassen sahen klebrig aus, und in der Zuckerschale befanden sich mehr Ameisen als Zucker. Am liebsten hätte sie ihrer Freundin dafür, dass sie sich so gehen ließ, eine Tracht Prügel verpasst – aber das hatte offenbar schon jemand anders erledigt.
»Bist du … die Treppe runtergefallen?«, fragte Bel mit Blick auf die blauen Flecke.
»Könnte man so sagen.«
»Und dein Hauspersonal ist in letzter Zeit auch nicht mehr das, was es mal war, wie?«
»Klar erkannt.«
»Nun ja, wenigstens hast du ja eine gute Stelle und ein geregeltes Einkommen.«
»Jetzt hör schon auf damit, Bel. Du siehst doch, was hier los ist.«
»Ist der Kerl in deinem Schlafzimmer daran schuld?«
»Nein, den habe ich erst gestern Abend kennengelernt.«
»Gut, dass ich jetzt hier einziehe.«
»Tust du das?«
»Natürlich. Oder willst du auf die Mieteinnahmen verzichten?«
»Über die Höhe der Miete hatten wir ja noch gar nicht gesprochen. Ich meine, wie willst du denn 100 Réis im Monat aufbringen?«
»Hundert?! Ehrlich, Beatriz, so wie es hier aussieht, müsstest du mir eigentlich noch Geld dazugeben. Aber ich könnte mich mit fünfzig einverstanden erklären – immer vorausgesetzt, du machst hier so weit Ordnung, dass ich nicht vor Ekel sterbe.«
Das Wasser im Kessel kochte, und Beatriz schüttete es über das Kaffeepulver, wobei sie eine beleidigte Schnute zog. Der Duft des frisch aufgebrühten Getränks erfüllte die winzige Küche, und plötzlich erschien es Bel nicht mehr gar so abwegig, hier einziehen zu wollen. Sie nahm zwei Tassen aus dem Regal und schnappte sich die Zuckerdose. Damit folgte sie Beatriz, die die Kanne vorsichtig vor sich hertrug, in einen Raum, der Wohn- und Esszimmer in einem war – den Raum, den Bel zu mieten vorhatte. Das einzige weitere Zimmer war Beatriz’ Schlafzimmer, aus dem sie nun ein leises Fluchen hörten.
»Und der da«, Bel wies mit dem Kinn in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, »sollte hier auch nicht mehr übernachten.«
»Schätzchen, so geht das nicht. Du kannst mir nicht, noch bevor du
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