Unter den Sternen von Rio
dramatischer Augenaufschlag unnachahmlich. Aber ihre Bewegungen waren hölzern, und beim Tanzen konnte sie nicht einmal den einfachsten Takt halten. Dass nun ausgerechnet diese Mimin für die Rolle einer Tänzerin ausgesucht worden war, wollte Bel nicht in den Kopf. Es war so ungerecht!
Der Kameramann, ein junger Mann von hellbrauner Hautfarbe, zwinkerte Bel verschwörerisch zu. Ihm schien die Darbietung ebenfalls Magenschmerzen zu verursachen. Bel versuchte sich an den Namen des Mannes zu erinnern, aber vergeblich. Nun ja, er wusste ihren Namen bestimmt auch nicht. So war das beim Film: Sie alle waren nichts als austauschbares Beiwerk – einzig den Regisseur sowie die Schauspieler, vor allem die Hauptdarsteller, kannte man namentlich. Halt, nein, das stimmte nicht ganz. Eine Person gab es, deren Namen jeder kannte, obwohl er in der Hackordnung ganz unten stand: Augusto.
Augusto war der Laufbursche, der Junge für alles. Er war ein sehr hübscher Mulatte ungefähr in Bels Alter – und ein bisschen verliebt in sie. Jedenfalls warf er ihr ständig glühende Blicke zu. Im Augenblick bestand seine Aufgabe darin, eine Schellackplatte ordentlich zu verstauen. Es war Drehpause. In der zuvor gefilmten Szene hatte der Mäuserich eine Platte aufs Grammophon gelegt und seine Partnerin zum Tanzen aufgefordert. Der eigentliche Tanz würde nach der Pause gedreht werden, und allen graute schon davor.
»Augusto!«, rief Bel den Jungen und winkte ihn zu sich. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Klar. Was gibt’s denn, ähm …?«
»Bel.«
»Ja, sicher, weiß ich doch, wie du heißt, Bel.«
»Gehen dir diese beiden
Tänzer
«, sie spuckte das Wort förmlich aus, »auch so auf die Nerven?«
»Du glaubst gar nicht, wie sehr«, sagte er und verdrehte die Augen.
»Du bist doch hier so etwas wie der Hüter der Schellackplatte, oder?«
Er nickte, stolz, dass er es in ihren Augen zum Hüter von irgendetwas gebracht hatte.
»Soll ich morgen mal eine andere Schallplatte mitbringen, die du denen da untermogelst?«
»Dürfte kein Problem sein – sie bewegen sich ja doch nicht im Takt, also kann auf der Platte sonst was sein. Aber …«
»Ja?«
»Ich würde es an deiner Stelle nicht tun. Senhor Octávio geht immer so ruppig damit um. Unsere eine Platte ist schon vollkommen zerkratzt, und du willst doch bestimmt nicht, dass deine Platte Schaden nimmt.«
»Das wäre es mir wert. Nur um mal einen richtigen Samba zu hören.« Bel wusste selber nicht, was in sie gefahren war. Die Idee war ihr ganz plötzlich gekommen, als sie Augusto mit der Platte gesehen hatte und ihr eingefallen war, dass sie ja auch stolze Besitzerin einer solchen war. Sie hatte sie letzte Weihnachten geschenkt bekommen und nur selten abgespielt, nämlich nur dann, wenn ihre Mutter nicht in Hörweite gewesen war. Zum Glück hatte sie diese Platte – als ihren größten Schatz – bei ihrer Flucht von zu Hause mitgenommen.
»Das wird ein Spaß!«, freute sich Augusto.
»Und ob!«, raunte Bel ihrem Komplizen zu, bevor dieser von einem wütenden Wichtigtuer mit einer anderen dringenden Aufgabe betraut wurde.
Am nächsten Tag fühlte Bel sich, als würde ein ganzer Hornissenschwarm in ihr herumschwirren. Sie hatte nur sehr wenig geschlafen, und sie war nervös. Was anfangs ein Streich hatte werden sollen, den die Langeweile ihr eingegeben hatte, war über Nacht zu einer Idee herangereift, die sie ihr Engagement als Komparsin kosten konnte.
Als kurz vor Mittag die Tanzszene gedreht werden sollte, war Bel so aufgeregt, dass sie den verhassten Besen mit ungeheurem Elan über den Boden schwang. Das fiel sogar dem Regisseur auf. »He, Hausmädchen, nicht ganz so eifrig, bitte schön!«, rief er.
Sie knickste und rief in dem typischen Sklavenjargon: »Sehr wohl, Sinhô, nicht so eifrig. Schön langsam, wie Sie es mögen, Sinhô.« Sie hörte ein paar Lacher. Das war schon einmal ein gutes Zeichen. Vermutlich freuten sich die anderen Leute am Set auch über etwas Abwechslung von der stupiden Wiederholung der immer selben Szenen.
Dann legte der »große« Octávio Osório die Platte auf. Gleichzeitig bückte Bel sich und zog aus einem Schrank, der zum Bühnenbild gehörte, einen Kopfputz heraus, an dem sie die halbe Nacht gearbeitet hatte. Sie wackelte dabei mit dem Hinterteil, als sei dies alles Teil der Szene, und betete, dass der Austausch der Schallplatte geklappt hatte – wenn nicht, stünde sie hier gleich ziemlich blöd da. Noch schien
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