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Unter den Sternen von Rio

Unter den Sternen von Rio

Titel: Unter den Sternen von Rio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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besten aller Gründe gehabt, um zu flüchten: Er war ein Sklave gewesen. Was dagegen hatte Bel zu ihrer Flucht veranlasst? Sie hatte ein schönes Elternhaus, sie war zur Schule gegangen und hatte alle Freiheiten gehabt, die man als 16 -jähriges Mädchen nur haben durfte. War es bloß jugendliche Rebellion? Der Versuch, sich abzunabeln? Oder hatten sie bei Bels Erziehung irgendetwas gründlich falsch gemacht? Er wusste es nicht. Es machte ihn wütend, dass er sich das Verschwinden seiner Tochter nicht erklären konnte.
    Noch ärgerlicher fand er, dass sie sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sie zu verständigen. Reichte ihre Phantasie nicht dafür, sich auszumalen, wie besorgt die Eltern sein mussten? Wäre ihr ein Zacken aus der Krone gebrochen, wenn sie eine kurze Notiz geschickt hätte, um ihnen mitzuteilen, dass es ihr gutging? Aber nichts dergleichen. Sie hatte sich nicht gemeldet. Und je länger ihr Schweigen angedauert hatte, desto mehr hatten er und Neusa sich gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe geschoben.
    »Wenn du ihr das Tanzen nicht hättest verbieten wollen …«
    »Wenn du dich wie ein Mann benommen hättest und nicht wie eine Memme …«
    »Wenn du mit deiner ewigen Nörgelei die Atmosphäre im Haus nicht vergiftet hättest …«
    »Wenn du mir mit deiner Abwesenheit keinen Grund zur Beschwerde geliefert hättest …«
    Es war kaum noch auszuhalten daheim.
    Natürlich hatte Felipe längst in Erfahrung gebracht, wo seine abtrünnige Tochter sich versteckte. Sie war bei einem Mädchen eingezogen, das früher hier im Viertel gelebt hatte, die Tochter einer unverheirateten Küchenhilfe. Der Apfel, dachte er, war in diesem Fall wirklich nicht weit vom Stamm gefallen. Diese Beatriz hatte eine gute Stelle ergattert, wie auch immer sie das angestellt haben mochte, und diese innerhalb eines Jahres verloren. Sie trieb sich mit zwielichtigen Männern herum und war alles in allem die denkbar schlechteste Gesellschaft für Bel.
    Andererseits kannte er seine Tochter gut genug, um zu wissen, dass diese sich nichts gefallen ließ. Er hatte also beschlossen, nicht einzugreifen und aus der Ferne zu beobachten, was sie mit ihrer Freiheit anfing. Neusa hatte er selbstverständlich keine Silbe davon gesagt – sie würde ihn umbringen, wenn sie je erfahren sollte, dass er Bel nicht an den Haaren nach Hause geschleift hatte. Denn das war ja ihrer Meinung nach die einzige Möglichkeit, das Mädchen wieder zur Vernunft zu bringen. Dennoch tat es Felipe in der Seele weh, dass Bel sich nicht bei ihnen gemeldet hatte – sehr wohl aber bei diesem Nilton aus ihrer Samba-Truppe. Immerhin hatte dieser schnell Ersatz für Bel gefunden, was Felipe mit einer gewissen schadenfrohen Befriedigung erfüllte. Das würde Bel nicht passen. Und es war das Mindeste, was sie an Strafe für ihr verantwortungsloses Handeln verdient hatte.
    Aber Bel war weiß Gott nicht seine einzige Sorge. Sein jüngster Sohn zahnte und schrie unentwegt. Seine Mutter, Dona Fernanda, hatte es in den Gelenken und war nicht mehr so agil wie früher, so dass sie im Haushalt auch nicht viel anpacken konnte. Sein Sohn Lulu zeigte erste Anzeichen pubertären Verhaltens, indem er sich mit großem Schweigen umhüllte. »Ihr versteht es ja doch nicht«, war die einzige Aussage, die aus ihm herauszubekommen war, wenn man ihn ausquetschte. Nur Lara, seine Neunjährige, war die reine Freude. Sie war eine hervorragende Schülerin, sah bildhübsch aus und war artig zu den Eltern. Sie war genau so, wie man sich eine liebe Tochter wünschte. Sie war das einzige seiner Kinder, das ihn beim Nachhausekommen stürmisch begrüßte und ihn den Berufsalltag, der auch nicht gerade sorgenfrei war, vergessen ließ.
    Eine Druckmaschine, die er aus Deutschland importiert hatte, war beim Transport beschädigt worden, und anscheinend konnte niemand in Brasilien sie reparieren. Die Papierlieferung, die schon vor zwei Tagen bei einem großen Verlagshaus hätte eintreffen sollen, lag in einem entgleisten Güterwaggon im Nirgendwo, wo sie wahrscheinlich schnell den Termiten, dem Schimmel oder irgendwelchen Parasiten zum Opfer fallen würde. Zu allem Überfluss war ihm noch ein guter Kunde von seinem ärgsten Konkurrenten abspenstig gemacht worden. Bei all diesen Problemen hatte Felipe weder Zeit noch Muße gefunden, um sich seinem Projekt »Luftkühlungsmaschine« zu widmen.
    So ging es ihm fast immer. Die Luftkühlungsmaschine war ja nicht die erste Idee dieser Art, die er

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