Unter den Sternen von Rio
als dem Zuschauer einen Blick auf Verunreinigungen in ihrem weit geöffneten Mund zu erlauben. Fernando Pereira sah sie leicht angeekelt an, aber sie wischte seine Bedenken mit einer knappen Erklärung fort: »Normalerweise benehme ich mich besser.«
Dann richtete sich ihr Blick verträumt in die Ferne, bevor sie wieder vor sich auf ihre Füße sah. Es wirkte, als müsse sie alle Konzentration in sich bündeln, alle äußeren Ablenkungen ausblenden. Schließlich hob sie den Kopf, sah Senhor Pereira direkt in die Augen und setzte zu einem langsamen Samba an. Es war ein Stück, das ihr Bekannter Heitor dos Prazeres geschrieben hatte, ein melancholisches Lied, das von einer unerfüllten Liebe erzählte.
Fernando Pereira war vom ersten Augenblick an hingerissen. Dieses Mädchen hatte eine großartige Stimme von gewaltigem Volumen, wie man sie in einem so zarten, jungen Körper überhaupt nicht vermutete. Bels Mimik war erschreckend glaubwürdig, beinahe fürchtete man, sie würde angesichts der besungenen Tragödie anfangen zu weinen. Auch ihre Körpersprache war phantastisch. Trotz ihres verletzten Fußes, den sie mit einer improvisierten Bandage aus einem alten Handtuch umwickelt hatte, gelang es ihr, zu dem traurigen Samba zu tanzen, sich langsam zu wiegen, die Brust wie beim Schluchzen zu senken und zu heben, mit Armen und Händen den Takt zu beschreiben. Dass sie kaum die Füße hob, fiel gar nicht auf. Und dass sie nicht von Instrumenten begleitet wurde, noch viel weniger. Es gelang ihr, den Rhythmus in ihren reduzierten und darum umso sinnlicheren Bewegungen darzustellen. Es war ergreifend.
»Sie müssen sofort anfangen«, unterbrach Senhor Pereira die Darbietung, weil er, wenn er noch länger zugesehen hätte, selber in Tränen ausgebrochen wäre. »Wie schlimm ist Ihr Fuß? Können Sie damit im Karneval defilieren?«
Das, wusste Bel, war ein Ding der Unmöglichkeit. Es waren nur noch wenige Tage bis zu dem großen Volksfest, und ihr Fuß war nach wie vor dick angeschwollen und schmerzte.
»Selbstverständlich«, sagte sie. Sie würde alles tun, um diese Chance zu nutzen. Alles. Und wenn sie sich die Zehen abhacken musste, um in ihre Schuhe zu passen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und jeden Schmerz lächelnd ertragen.
»Kommen wir zum Geschäftlichen«, schlug sie vor.
In Windeseile wurde ein Samba geschrieben und mit Bel aufgenommen. Eine namhafte Hutmacherin legte Nachtschichten ein, um einen Kopfschmuck zu fertigen, der wie ein riesiger Obstberg aussah, aber aus Pappmaché bestand und daher viel leichter zu tragen war. Eine Schneiderin kreierte ein Kleid, das dem einer baianischen Marktfrau nachempfunden war, weiß und mit vielen Rüschen, das aber zugleich viel mehr Haut freigab. Der Filmrequisiteur suchte alles an Kreolen und buntem Glasschmuck zusammen, was er im Fundus hatte. In absoluter Rekordzeit war Bels Ausstaffierung fertig.
Anschließend machte man verschiedene Fotoaufnahmen für die Hülle einer Schellackplatte. Da auch hier die Exotik im Vordergrund stehen sollte, wurden Palmen und Papageien ins Fotostudio geschafft. Auf dem Boden wurden so viele Hibiskusblüten verstreut, dass Bel ihren noch immer angeschwollenen Fuß leicht in dem Blütenmeer verstecken konnte. Eine überflüssige Maßnahme, wie sich später zeigen sollte, denn man entschied sich letztlich für ein Porträt von Bel, das die Plattenhülle zieren sollte. Sie war darauf so stark geschminkt, dass sie sich selber kaum wiedererkannte, sich aber ausnehmend gut gefiel. Darüber stand in fetten Lettern »Bela Bel«. Das, so ihr Förderer, solle ihr Künstlername sein, denn eine Bel da Silva wäre zu profan.
Fernando Pereira war sich der Gefahren bewusst, die dieses überstürzte Handeln mit sich brachte. So wusste er zum Beispiel noch gar nicht, ob sein Früchtemädchen den Geschmack eines breiten Publikums treffen würde. Genauso wenig wusste er, ob Bel dem Druck gewachsen wäre, den die erhoffte Popularität mit sich bringen würde. Auch ob ihr Tanz und ihr Gesang ein breiteres Repertoire zulassen würden, konnte man zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Allerdings war er sich ziemlich sicher, aufs richtige Pferd gesetzt zu haben. Und da der Karneval vor der Tür stand, galt es, schnell zu handeln. Einer von Bels Vorzügen war schließlich auch ihre Jugend. Wenn sie bis zum nächsten Jahr warteten, das Mädchen schulten und formten, wäre sie nicht nur ein Jahr älter, sondern sie würde auch viel von ihrer
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