Unter den Sternen von Rio
Spontaneität und Naivität einbüßen, die ja gerade ihren Charme ausmachten.
Für den Karnevalsumzug stellte Senhor Pereira den Firmentransporter zur Verfügung. Es war ein Nutzfahrzeug älteren Baujahrs, bei dem es auf einen Kratzer mehr oder weniger nicht ankam. Es hatte eine offene Ladefläche, auf der man bei Regen eine Plane aufziehen konnte. Auf dieser Ladefläche sollte Bel auftreten. Sie würde ihren verletzten Fuß dick bandagieren können, ohne dass es die Zuschauer sahen, denn Senhor Pereira hatte nicht vor, die Gesundheit seines zukünftigen Stars aufs Spiel zu setzen. Wenn ihr Knöchel einen bleibenden Schaden erlitte, wäre es vorbei mit seinem und Bels Traum von der Sambakönigin. Man würde den Transporter mit Zweigen und Blüten schmücken, die Musiker ebenfalls auf der Ladefläche gruppieren und hoffen, dass nicht allzu viele Eier darauf landeten und die Standfestigkeit seiner Truppe gefährdeten. Der alte Brauch, an Karneval Eier, Mehl oder
limão de cheiro,
mit parfümiertem Wasser gefüllte Wachskugeln, zu werfen, war noch immer weit verbreitet.
Für Proben blieb nicht viel Zeit. Die Musiker und Bel trafen sich genau dreimal, um Tanz und Musik aufeinander abzustimmen. Aber das war nicht so tragisch, fand Bel. Während des Umzugs ging es immer so lebhaft und laut zu, dass kleinere Macken ihres Auftritts vollkommen unbemerkt bleiben würden. Sorge machte ihr vor allem der Regen. Es hörte einfach nicht auf. Während die Cariocas sich meist unbeeindruckt davon zeigten – immerhin waren starke Schauer in dieser Jahreszeit ganz normal – und in Scharen zu den Umzügen kamen, machte Bel sich Gedanken darüber, was das viele Wasser bei ihrem Kopfschmuck aus Pappmaché anrichten würde. Mit einem breiigen Klumpen auf dem Haupt zu defilieren entsprach nicht unbedingt ihrer Wunschvorstellung. Sie musste das Problem mit ihrem Mentor besprechen.
»Aber Bel! Warum haben Sie das nicht schon früher gesagt? Ich habe gar nicht an diese Möglichkeit gedacht, aber es stimmt natürlich. Sie können unmöglich wie ein begossener Pudel dastehen. Aber mir fällt da schon etwas ein.«
Und das tat es. In Windeseile wurde eine künstliche Palme mit echten Palmwedeln auf der Ladefläche errichtet. Darunter, so sah es der Plan vor, sollte Bel tanzen, denn die ledrigen Blätter schützten sie vor dem Regen. Doch als Bel sich versuchsweise darunterstellte, bemerkte sie, dass die Palme nicht annähernd hoch genug war. Sie würde sich mit ihrer Obstgarnitur in den Blättern verfangen, was nicht minder lächerlich aussehen würde als matschige Früchte. Herrje!, fluchte sie im Stillen. Es wurde immer chaotischer. Vielleicht war es doch keine so brillante Idee gewesen, einen Auftritt in derartig kurzer Zeit zu organisieren. Bel, die noch nie unter Lampenfieber gelitten hatte, wurde nervös. Wie konnte eine Sache gelingen, wenn sie nur husch, husch erledigt wurde?
»Aber das ist doch immer so«, entgegnete Senhor Pereira auf ihre entsprechende Kritik. »Beim Film ist es nicht anders. Irgendwann erreicht man einen Punkt, ab dem auf einmal alles ganz schnell gehen muss. Doch der Zeitdruck holt aus den meisten Leuten das Beste heraus. Außerdem ist alles, was wir tun, nur Illusion. Niemand sieht, ob ein Kleid gut verarbeitet ist oder ob der Stamm einer künstlichen Palme voller Kleckse von Klebstoff ist. Niemand
will
es sehen. Die Leute nehmen alles, was wir ihnen präsentieren, dankbar an. Sie verdrängen die kleinen Fehler, die meist für sie gar nicht sichtbar sind, weil sie in eine andere Welt entführt werden wollen.«
Bel war nicht ganz überzeugt, nickte aber. Perfektionismus war einer ihrer hervorstechenden Wesenszüge, Huddelei und Fuddelei konnte sie nur schwer ertragen. Doch was blieb ihr anderes übrig? Sie hatten in der Kürze der Zeit etwas auf die Beine gestellt, das sich sehen lassen konnte. Und so unvollkommen es auch war, es war doch besser als die Alternative – nämlich gar nicht beim Karneval aufzutreten.
Zu all ihren Sorgen über das Wetter und die lückenhafte Vorbereitung gesellte sich am Karnevalsfreitag, drei Tage vor dem großen Umzug, eine weitere: Celestina Sampaio. Bel war gerade in ihrer »Garderobe«, einem stickigen Kabuff in der hintersten Ecke der Filmstudios, als Celestina, ohne anzuklopfen, hereinstürmte.
»Ha, ›Bela Bel‹, du glaubst wohl, du bist die Größte, was? Lass dir eins gesagt sein: So ging es uns anderen auch mal. Wenn du gerade Fernandos Favoritin bist, hast
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