Unter den Sternen von Rio
ja, es ist so, dass er kürzlich geheiratet hat, aber wie er mir glaubhaft versicherte, ist es nur …«
Den Rest seiner Rede hörte Ana Carolina nicht mehr. Sie stürmte aus dem Raum und rannte auf ihr Zimmer.
»Wahrscheinlich hat sie einen Kater, und ihr ist plötzlich, ähm, unwohl geworden«, meinte Marie, um das mehr als merkwürdige Verhalten ihrer Cousine zu rechtfertigen. Doch niemand fand ihren Kommentar passend.
Die Erwachsenen starrten einander betreten an. Einzig Cecílias Tochter hatte es nicht die Sprache verschlagen.
»
Mamãe,
bekommen wir auch eine Katze?«
[home]
Teil 2
Rio de Janeiro, April – Mai 1926
17
D er Sender »Rádio Sociedade do Rio de Janeiro« übertrug seit knapp drei Jahren Nachrichten, Kulturprogramme und Aktuelles aus Wissenschaft und Technik für die Abonnenten in der Hauptstadt. Es war die erste und bisher einzige Station in Rio. Ihr Sitz befand sich im »Pavilhão Tchecoslovaco«, im Tschechoslowakischen Pavillon der Weltausstellung von 1922 , mitten in der Innenstadt. Sie unterhielt ein eigenes Orchester, denn es wurde täglich von 17 bis 18 Uhr ein Programm mit klassischer Musik ausgestrahlt. Nur sonntags um 16 Uhr gab es eine Sendung mit volkstümlicheren Inhalten, unter anderem mit populären Hits. Eines der am häufigsten gespielten Lieder war »Frutas Doces« – »Süße Früchte« – von Bela Bel.
Dafür, dass sein Schützling die angemessene Aufmerksamkeit erhielt, hatte Fernando Pereira höchstpersönlich gesorgt. Er war nach dem Karneval im Pavilhão Tchecoslovaco erschienen, hatte kurzerhand den Programmdirektor geschmiert und damit sichergestellt, dass Bel in der sonntäglichen Sendung zu hören war. Und zwar an jedem Sonntag. Nicht, dass es dieser kleinen Ermunterung unbedingt bedurft hätte. Auch ohne die Bestechung wäre Bels Lied ein Gassenhauer geworden. Doch Fernando Pereira überließ nichts gerne dem Zufall. Er hatte viel Geld in das Mädchen investiert, unter anderem mit der Produktion der Platte, und er hatte das nicht etwa aus altruistischen Motiven getan. Er wollte Geld an Bel verdienen, und zwar möglichst viel davon.
Es ließ sich alles sehr schön an. Bela Bel war auf dem besten Weg, ein Star zu werden. Die im Hauruckverfahren aufgenommene Platte verkaufte sich gut, und der Film mit ihrem kurzen unplanmäßigen Auftritt verhalf Bel zu noch mehr Popularität. Oder war es umgekehrt, verhalf sie dem Film zu einem größeren Publikum? Der Streifen war billig und schlecht gemacht, dennoch lief er an den Kinokassen außergewöhnlich gut. Doch das sicherste Indiz dafür, dass Bels Karriere nicht mehr aufzuhalten war, waren die vielen Nachahmer. Plötzlich traten in zwielichtigen Clubs immer mehr Sängerinnen mit Obsthüten auf. Eine davon war sogar so dreist, sich selbst »Bela Isabel« und ihr Lied »Frutas Tropicais« zu nennen. Normalerweise empfand Fernando Pereira solche Plagiatoren eher als Kompliment denn als Bedrohung und unternahm nichts weiter dagegen. Aber diesmal verstand er keinen Spaß. Er hatte Bel entdeckt, und er würde sie zum Star machen – mit dem Früchtekorb auf dem Kopf als ihrem Markenzeichen. Da wollte er keinerlei Risiken eingehen. Er hatte bereits einen Anwalt eingeschaltet. Das Ziel war klar: Bela Bel sollte einzigartig sein. Nicht nur in Rio, sondern in der ganzen Welt.
Felipe da Silva war, seit er sich einen Radioempfänger gekauft hatte, an keinem Sonntagnachmittag mehr außer Haus zu sehen. Er klebte förmlich vor dem Gerät. Seine größeren Kinder, Lara und Lulu, leisteten ihm Gesellschaft. Es war einfach zu aufregend, die Stimme von Bel aus dem Apparat schallen zu hören. Bela Bel war eine kleine Berühmtheit. Lara und Lulu waren stolz auf ihre große Schwester und luden regelmäßig ihre Freunde aus der Nachbarschaft ein, um mit ihnen dem beliebten Lied »Frutas Doces« zu lauschen. Sie hätten natürlich auch einfach die Platte abspielen können, die ihr Vater gleich nach Erscheinen gekauft hatte, aber es war doch etwas ganz anderes, wenn sie im Radio lief. Die öffentliche Übertragung verlieh dem Lied und der Interpretin eine echte Bedeutung.
Auch Neusa war insgeheim stolz auf ihre älteste Tochter. Zugleich ärgerte sie sich maßlos über Bel. Warum war das Mädchen noch immer nicht zu Hause aufgekreuzt? Nun hatte sie endlich allen bewiesen, was in ihr steckte, da konnte sie doch auch wieder heimkommen, oder etwa nicht? Neusa fand es beleidigend, dass Bel sich nicht blicken ließ. War sie
Weitere Kostenlose Bücher