Unter der Hand (German Edition)
Rucksack in die Jugendherberge. Ist das dekadent oder fortschrittlich – Koffer auf Rädern? Das Amerikanisch schwappt hoch bis in den vierten Stock, sicher lauter kleine Louisianer oder Missourianer, wild entschlossen, in München all das zu erleben, was der mittlere Westen ihnen vorenthält. Vorsichtshalber mit Kondom.
Ich schließe das Fenster, nehme im Vorbeigehen die beiden Fotoalben meiner Kindheit vom Regal und setze mich in die Küche: den Raum, in dem das Alleinsein am Leichtesten wiegt. Vielleicht, weil man dort in Gesellschaft von Töpfen und Pfannen sitzt, deren Gegenwart Nachweis ist für Hungrige aller Art.
Nach dem ersten Schluck Wein fühle ich mich besser, es ist mittlerweile halb sechs abends, happy hour, Minna!
Ich schlage das braune Album auf, das dünne, halb durchsichtige Papier, das die schwarzen Pappdeckel voneinander trennt, raschelt vielversprechend. Früher war auch die Schokolade in ähnliches Papier gehüllt, man konnte es über einen Kamm spannen und darauf Mundharmonika spielen, bis die Lippen vom Vibrieren ganz pelzig waren.
Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus
… Heute bleibt einem kaum etwas übrig, als dabei an Schtetl zu denken. Stimmt das oder ist das nur ein Einfall, dumm und mechanisch wie das Worterkennungsprogramm des
short message service
?
Erster Schultag, ich stehe x-beinig, mit zusammengekniffenem Mund und umarme die Schultüte. Der Fotograf hatte mich wegen der Zahnlücken aufgefordert, nicht zu lachen. Ich blättere rückwärts und werde kleiner, kurzhaariger, kahlköpfig. Das erste Foto im Alter von drei Monaten. Die Nonnen haben gut gefüttert, ich sehe ziemlich drall aus. Und ernst wie ein kleiner Wissenschaftler. Unter den Fotos stehen Daten oder nur „Winter 1960“. Sie sind winzig; mit dem weißen gezackten Rand sehen sie eher aus wie Untersetzer für Weingläser. Unter einem Bild (
Zweiter Herbst zu Hause
) steht
Das Zornbündel Minna
. Ich bin darauf heulend zu erkennen, mit völlig verzerrtem Gesicht. Wollhose, Strickjacke mit dicken Bommeln, vermutlich der Grund für den Wutanfall, sie kratzte furchtbar. Im Hintergrund eine hohe Mauer, Naturstein. Die umgab den Park derer von Wiehl, auf dem abgerundeten Kamm ragen, über die volle Länge der Mauer, spitze Glasscherben aus den grob verfugten Steinen zur Abschreckung von Einbrechern. Falls es doch jemand unversehrt über die Mauer schaffte, würde der Hund, ein hellbrauner Rüde der Rasse Weimaraner Kurzhaar, nachholen, was die Scherben versäumt hatten. Das Tier jagte mir große Angst ein, es war so ehrgeizig und immer wie eine Feder gespannt, zum Biss bereit, verfiel aus dem Stand in einen schlenkernden Galopp, die Ohren angelegt, die Zunge baumelnd, in freudiger Vorwegnahme des Geschmacks von warmem, leicht salzigem Blut, das fließen würde. Die vier von-Wiehl-Kinder machten sich einen Spaß daraus, ihn erst im allerletzten Moment zurückzupfeifen. Da hatte ich mir längst in die Hosen gemacht. Am Ende des Albums bin ich zwölf – aus den anderthalb Kilo Startgewicht waren sechzig geworden, ein Pummel, ein mopsiges Missgeschick mit Hohlkreuz. Vor vierzig Jahren waren im Foto festgehaltene Momente noch seltener, anders als jetzt, wo noch das banalste Vorkommnis dokumentiert und damit in die Bedeutungsträchtigkeit befördert wird oder eben gar keine Bedeutung mehr hat. Zwölf Jahre würden heute ganze Regale oder Festplatten füllen. Ich trage neben den Speckröllchen lange Zöpfe, Zahnspange und eine unbestimmte Trübheit im Blick. Glanzlos, wie hinter schlecht geputzten Brillengläsern. Vielleicht, weil es keine Augen gab, die meinen Blick hätten erwidern können, das Gesicht des Fotografs verschwindet ja gänzlich hinter der Kamera. Den Schulranzen seitlich geschultert, als wäre er ein Gewehr. Der Mantel ist sichtbar zu eng, zu kurz; ich fühle mich hoffnungslos überrumpelt von der Rück- und Wiederkehr eines Körperempfindens, das ausschließlich aus Unbehagen besteht. Ruhestörung, Ärgernis, Verkehrsbehinderung. Mit solchen Körpern pflegt man nur über Strafzettel Umgang. In der Mathematik sind sie eine Primzahl, durch nichts teilbar als sich selbst. Selber schuld.
Ich blättere hin und her, mein Leben verliert an Folgerichtigkeit, ich bleibe hängen am Badeausflug am Fluss, auf dem Badeanzug schwimmen bunte Fische mit offenen Mäulern, als japsten sie nach Luft. Ich sitze vor einem kleinen Zelt und habe drei Puppen neben mich platziert wie Schwestern. Die Puppen tragen
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