Unter der Haut (German Edition)
stimmen. Hier hatte uralte Weisheit vorübergehend von dem viel bevölkerten jungen Geist Besitz ergriffen. Und es ist ein
er
, der über die Mondpfade zieht, ein
er
, der auf Abenteuersuche geht. Wäre es eine
sie
gewesen, die nachts umherstromert und sich die Liebe holt, die nicht zu lange zaudert, hätte man eine völlig andere, im Herzen des Unterschieds zwischen männlich und weiblich angesiedelte Geschichte. Weiterhin findet sich nicht der geringste Hinweis auf ein Bewusstsein dessen, dass es seit mindestens fünfundzwanzig Jahren »moderne Lyrik« gab. Schließlich – und das ist mir am wichtigsten – war für mich als Schriftstellerin, das heißt immer dann, wenn ich mich am meisten um Wahrheit bemühte, der Zauber- oder Runenspruch außer Kraft gesetzt, den ich sonst jedes Mal, wenn ich daran dachte, vor mich hin sagte: mein
Ich will nicht
, ich
will
einfach nicht. Das Gedicht ist aus einer anderen Wissensschicht entstanden. Und es ist auch nicht von der leichten angenehmen Melancholie getragen, in die Lyrik sich so gerne hüllt.
Gesundheit war das eine, was dieser lange, fast zweimonatige Aufenthalt mir schenkte. Das andere, was meine Eltern nicht vorhersehen konnten, war Granny Fisher selbst, denn sie hatte im Leben so viel Schweres durchgemacht, dass es ihr einfach absurd erschien, Kinder schonen zu wollen. Sie war als armes Mädchen auf den Farmen und Minen Südafrikas aufgewachsen. Sie hatte Johannesburg gekannt, als es eine Goldgräberstadt war, wo die Leute in langen Straßen aus Zelten oder Wellblechhütten hausten und nur Sturmlaternen als Beleuchtung hatten. Dort war Keuschheit ihre geringste Sorge gewesen, eher schon das nackte Überleben zwischen Prügeleien, Morden oder Überfällen auf offener Straße und den vielen Betrunkenen, von denen alle Frauen, die mir aus jener Zeit begegnet sind, ein Lied zu singen wussten. Die Männer betranken sich allabendlich, und die Frauen mussten mithalten oder ihnen aus dem Weg gehen. Sie war verheiratet gewesen. Irgendwo hatte sie eine ältliche Tochter. Diese pikareske Geschichte hatte ihr den Namen »Granny« eingetragen. Die gute alte Granny, heute ist
sie
ein echtes Original.
Unter ihren Gästen war ein verlobtes Paar. Im Distrikt bedeutete das, jedenfalls offiziell, Keuschheit bis zur Hochzeitsnacht. Man wahrte den Schein. Nichtsdestotrotz schliefen die zwei im selben Bett. Er war landwirtschaftlicher Sachverständiger und arbeitete unten in Umtali. Abends in der Dämmerung kam er die zwanzig Meilen über die schlechten Straßen hinaufgefahren, um die Nacht mit ihr zu verbringen. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, Lesley oder Jackie oder Billy, irgendeiner von diesen flotten Namen, wie sie in den dreißiger Jahren üblich waren. Sie verbrachte die Tage auf einer Veranda mit einem weiten Blick über das Land und arbeitete an ihrer Aussteuer, Satinhöschen, Hemdhosen und Petticoats. Und Kestos-BHs aus Seiden- und Voileresten. Aber wozu? Sie war grazil. Sie war vorne flach. Sie hatte kurz geschnittenes, glattes blondes Haar. Sie war nicht hübsch, aber, wie Granny Fisher sagte, in ihrer Härte attraktiv. Sie hatte einen tiefroten Mund mit einem ironischen Zug um die Lippen und kalte, graue Augen. Immer wenn ihr Verlobter aus Umtali ankam, saß sie da und nähte. Ich merkte, dass sie eine Sirene war, verstand aber nicht die Feindseligkeit, die sie ausstrahlte, auch ihrem Geliebten gegenüber, einem gut aussehenden, aber zu weichen Mann (Granny Fisher: Was sie braucht, ist ein Mann mit einer Peitsche). Er betete sie an. Er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Seine Hände bewegten sich unaufhörlich, gegen seinen Willen, und wollten sie berühren. Doch wenn er es versuchte, schüttelte sie abwehrend ihr glänzendes gelbes Haar, lachte spöttisch oder zuckte mit ihrem langen, harten Schenkel heftig zurück. Hasste sie ihn also? Es hatte den Anschein. Wenn sie ihn ansah, dann immer kalt lachend und frech. Sie ließ jeden wissen, dass sie nicht gern mit ihm schlief.
Wie konnte sie ihn, wenn er ihr missfiel und sie nicht mit ihm schlafen mochte, hinter sich herschleppen »wie ein armes Hündchen an der Leine«? (»Ach, Granny, Sie sind so gemein«, sagt ein Gast.) Aber ich beobachtete nicht nur
sie
mit den neuen Augen, die mir in dieser Situation und dank Granny Fisher geschenkt worden waren, sondern rückblickend auch Frauen aus dem Distrikt, denn plötzlich war ich in der Lage, unter den vortrefflichen, eifrigen, fleißigen Hausfrauen – den
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