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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Ich habe nie eine außergewöhnlichere Frau kennengelernt. Schon damals merkte ich an ihrem selbstverständlichen, ja lässigen Umgang mit den unzähligen Menschen, die durch ihr Haus und ihr Leben gingen, dass nur wenige Leute so reich an Erfahrung sein konnten wie sie. Sie sorgte nicht nur für Unterkunft und Verpflegung. Alle möglichen Leute reisten zu ihr in die Vumba-Berge, um sich Rat zu holen oder sie zu bitten, ihre Beziehungen für sie spielen zu lassen, denn sie schien jeden in der Kolonie zu kennen. Bekannte und sogar schillernde Persönlichkeiten kamen zu ihr ins Gästehaus, um sich von den anstrengenden gesellschaftlichen Verpflichtungen in Salisbury zu erholen. Ich erlebte, wie die Frau eines Ministers aus dem Staatskabinett und ihre achtzehnjährige Tochter beim Abendessen neben dem Landvermesser saßen, der eine Karte der Vumba-Berge anfertigte, und wie sie sich dann zu dritt bis tief in die Nacht auf der Veranda unterhielten, verwandte Seelen, die sich sonst nie begegnet wären. Dieser Frau habe ich einen kleinen Einblick in Granny Fishers Vergangenheit zu verdanken. Sie verspürte nämlich das dringende Bedürfnis, ein neues Ernährungscredo zu predigen: Heranwachsende Mädchen sollten hauptsächlich Fleisch essen, vorzugsweise halb roh. Granny Fisher hörte zu und sagte: »Ich habe während einer Dürreperiode im nördlichen Transvaal auf einer Mine gelebt. Wir hatten nichts zu essen außer gepökeltem Rindfleisch. Zwei Monate haben die Kaffern und ich uns ausschließlich davon ernährt. Ein anderes Mal war ich auf einer armen Farm in der Nähe von Stellenbosch, und wir aßen ein halbes Jahr lang nichts als Maisbrei und Kürbis. Der Körper findet sich mit allem ab, was man ihm bietet«, belehrte sie mich. Wenn ich sie nun gefragt hätte … Aber ich war zu sehr von Phyl – oder Pat oder Tony – fasziniert. Vielleicht war ich damals einfach noch nicht klug genug, um die richtigen Fragen zu stellen.
    Ich kehrte gesund nach Hause zurück, voller Energie. Und ich brachte einen BH mit, den ich mir selbst genäht hatte. Als meine Mutter sich mit dieser feindseligen jungen Frau, die plötzlich einen Busen bekam, konfrontiert sah, schaltete sie auf Kampf und rief: »Michael, Michael«, und schrie so lange, bis er kam, woraufhin sie mir das Kleid hochzog, um ihm zu zeigen, was ich darunter trug.
    »Ach, Gott, ich dachte, es wäre etwas Ernstes«, sagte er, schon wieder auf dem Weg hinaus.
    Blinder Hass und unbändiger Zorn ergriffen von mir Besitz, genau wie damals, als ich meine erste Regel bekam und sie durch das Haus rannte, um meinem Vater und meinem Bruder brühwarm davon zu erzählen.
    Meine Wut auf sie und mein Abscheu vor ihr waren vollkommen maßlos, so heftig, dass ich sie jahrelang verdrängte. Doch dann geschah etwas, das mich zwang, erneut darüber nachzudenken. Viele Jahre später lebte ich in einer Wohnung neben einer schwachsinnigen alten Frau als Nachbarin, um die sich die halbe Straße bemühte, damit sie nicht in die Anstalt musste. Sie streckte einem einfach die stinkenden Füße entgegen und verlangte, dass man sie ihr wusch, oder sie pulte Hautstückchen ab und steckte sie sich mit Genuss in den Mund, oder sie kratzte sich lustvoll am ganzen Körper und ließ dabei die Zunge heraushängen. Sie hob ihre riesigen Hängebrüste hoch, um die Hautrötung darunter zu betrachten, und lud einen zum Hinschauen ein, oder sie rieb sich so kräftig zwischen den Beinen, als ob sie einen Hund abtrocknete. Sie war grenzenlos abscheulich, aber schließlich war sie schwachsinnig und konnte nichts dafür. Die Heftigkeit meines Abscheus und meiner Wut war übertrieben. Maßlos übertrieben. Nicht zu verstehen – und doch zu verstehen, wenn man sich vorstellt, dass ein kleines Kind mit einem scheußlichen Erwachsenen eingesperrt ist. Mit wem? Die meisten Eltern stellen ein Kindermädchen oder eine Tagesmutter so beiläufig ein, wie sie ihre Einkäufe machen. Vielleicht war es die Trinkerin Mrs. Mitchell, mit der ich im selben Zimmer geschlafen hatte. Vielleicht sogar meine Mutter, jedenfalls kann schon die geringste Verletzung des Anstandsgefühls eines kleinen Kindes eine Ungeheuerlichkeit darstellen. Jemand kommt zu Besuch, beugt sich lächelnd über das Kind und hat am Kinn einen runden, glänzenden Wulst wie die Zitze eines Kaninchens, das seine Jungen noch stillt. Aus dem Wulst sprießt ein rötliches Haar, und dieses Haar erscheint einem als Zeichen für schmutzige Geheimnisse und grausige

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