Unter der Haut (German Edition)
heimlich mit ihm Gespräche über Politik und die Eingeborenenfrage und brachte den ersten Teil jeder Nacht mit dem Versuch zu, meinem friedfertigen Freier die Unschuld zu rauben.
Ich war von einer fiebrigen Sehnsucht nach Erotik ergriffen, wie früher in meiner Kindheit nach Romantik.
Ich könnte wahrheitsgemäß sagen, dass ich meine Jugendjahre in einem sexuellen Trancezustand verbrachte, wie ihn Christina Stead so treffend in
For Love Alone
beschreibt, dem wohl besten Roman über ein heranwachsendes Mädchen. Aber das sage ich nur, wenn ich den Teil meines Hirns aktiviert habe, der für Liebe zuständig ist.
Mit ebensolcher Berechtigung könnte ich sagen, dass ich meine Kindheit, Mädchenzeit und Jugend in der Welt der Bücher zubrachte. Oder unterwegs im Busch, wo ich alles, was vorging, belauschte und beobachtete. Damit befinden wir uns beim Kernproblem des Erinnerungsvermögens. Unsere Erinnerungen sind von unserer Befindlichkeit zu dem Zeitpunkt abhängig, an dem wir uns erinnern.
Meiner Auffassung nach sollten manche Mädchen im Alter von vierzehn mit einem bis zu zehn Jahre älteren Mann ins Bett gesteckt werden, und zwar mit der Einsicht, dass diese kindliche Liebe vergehen wird. Natürlich sehe ich die Einwände dagegen. Es würden Herzen gebrochen werden – aber das werden sie sowieso. Trägt diese Idee den Realitäten des Lebens Rechnung? Ist sie mit Schule und Hausarbeiten vereinbar? Dieser musterhaft liebevolle Mentor würde natürlich darauf bestehen, dass Schularbeiten gemacht werden, und für ein ausgewogenes Sozialleben sorgen … In einigen Teilen der Welt, zum Beispiel in Indien, war es früher üblich, dass sehr junge Leute mit dreizehn oder vierzehn verheiratet und dann, manchmal ganze Monate, zusammen eingeschlossen wurden. Wahrscheinlich mussten sie nicht zur Schule. Aber genug der Theorie: Das wäre für mich das Richtige gewesen. Das Problem ist nicht Wollust, ein irgendwie zu befriedigender Appetit, sondern eine erotische Sehnsucht nach der überfälligen Erfüllung angelegter Möglichkeiten, nach einer Transformation, nach einem Eintritt in – wohin, darüber wäre zu streiten. Diese Art der Sehnsucht gleicht dem Heimweh. Es ist eine Form von Heimweh, vielleicht nach vergangenen statt nach zukünftigen Paradiesen. Es ist eine Krankheit, die Kräfte lähmt.
Ich bin überzeugt, dass die unerfüllten Träume und Wünsche der Eltern Einfluss auf die Kinder haben. Ich bin sicher, dass die Frustrationen meines Vaters mich beeinflusst haben. Dass sein Geschlechtsleben zu kurz kam, war kein Geheimnis – zumindest für mich. Er sprach nicht nur in wehmütigem Ton von Frauen, die er anziehend und auf Anhieb sympathisch fand, und mit Bedauern von Männern und Frauen, die mit gefühlskalten Partnern verheiratet waren, sondern er sagte mir auch mehr als einmal Dinge, die mir seine Situation deutlich machten. Natürlich wünschte ich, er hätte es nicht getan, obwohl ich mich geschmeichelt fühlte, dass er mich ins Vertrauen zog.
Aber ich war zu jung für Bemerkungen wie: »Davon ist bei deiner Mutter nicht eine Spur zu finden.« Keine Tochter, Rivalin der Mutter, wird das ohne einen Anflug von Triumph vernehmen, aber sie tat mir auch leid, ich identifizierte mich mit ihr und litt unter dem Widerstreit der Gefühle. Und wenn sich meine Mutter mir anvertraute, wollte ich nichts davon wissen. Durch Krankheit und Übermüdung war ihr Sex, so schien es, schlicht zu viel. Aus dem, was sie tatsächlich laut sagten und was sie erzählten, ohne dass es ihnen bewusst war, und aus meinen eigenen Schlussfolgerungen machte ich mir ein Bild von ihnen und fand es in einer kleinen Szene bestätigt, die ich mit sieben oder acht beobachtete. Es war Nacht. Wie üblich liegen mein Bruder und ich im Elternbett neben dem Wohnzimmer vorne im Haus, weil wir sonst zu weit von unseren Eltern in ihrem lampenhellen Abendzimmer getrennt wären und ganz allein in dem großen, schattenreichen Zimmer unter den Balken liegen müssten, wo nur das kleine Nachtlicht brennt, in meinem späteren Zimmer. Ich liege in Vaters Bett, mein Bruder, der schon schläft, in Mutters Bett. Vater und Mutter kommen zusammen ins Zimmer. Sie stellt vorsichtig die Lampe ab. Er umschlingt sie und dreht sie zu sich, dass er ihr ins Gesicht sieht. Er ist ritterlich und schüchtern, wie ein junger Bursche – oder wie ein zurückgewiesener Mann. »Und jetzt, wo die Kinder größer sind, kann es vielleicht wieder so werden, wie es sein sollte,
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