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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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allmählichen und unsichtbaren Prozesses, bei dem sich Substanzen oder Gefühle zu etwas verdichten, das sich von dem Bisherigen unterscheidet.
    Ich hatte die Familie, vor allem das Baby, lieb gewonnen. Ich war Jasper dankbar. Meinen Bettgefährten hatte ich mit der Zeit wie einen aufdringlichen Hund oder eine streichelbedürftige Katze hingenommen. Die Dame des Hauses mit ihren Bauernröcken und Zöpfen erschien mir allerdings nicht mehr wie die unschuldige Jungfrau. Wen hatte sie denn über ein Jahr lang die ganze Arbeit für sich machen lassen, während sie auf ihrem Sofa saß, ein Bild hausfraulicher Selbstzufriedenheit, die Augen auf ihre Näharbeit gesenkt?
    Viele Jahre später sah ich sie und Jasper in einer Flughafenlounge einander gegenübersitzen. Sie war ein ältliches Mädchen, die grauen Zöpfe zu einem Kranz gelegt, ihre wundervollen kornblumenblauen Augen stets auf dem widerlichen, ungeheuer fetten Mann, zu dem er geworden war. Einst hatte er sie gönnerhaft behandelt. Jetzt sagte sie mit ihrem sanften, offenen Lächeln: »Es ist Zeit für deine Pillen, Schatz. Ich habe sie in deine Tasche gesteckt … Kommst du dran, oder soll ich sie dir herausholen?«
    Manchmal beobachte ich, wie sich die heranwachsende Tochter einer Freundin abscheulich benimmt, und merke, wie ich mich um meiner Freundin willen über das schreckliche Mädchen empöre … Aber Moment mal, sage ich mir dann beim Anblick der wütend gesenkten Lider, des kalten, verkniffenen Mundes, hast du vergessen, wie du warst? Und sage zu meiner armen Freundin: »Siehst du es denn nicht? Für sie bist du eine Bedrohung, du bist übermächtig, sie fürchtet, von dir verschlungen zu werden.« »Was,
ich
eine Bedrohung?« Und in der Tat erleben sich die allerwenigsten von uns selber als mächtig, wir betrachten uns meist als zartes Geschöpf, das sich nur mit Glück in einer unbarmherzigen See über Wasser hält. Es war nicht die Stärke meiner Eltern, die mich bedrohte, es war ihre Schwäche.
    »Ich will nicht, ich werde mich nicht zum Kriegsopfer machen lassen.«
    Und ich hörte abends im Radio die Nachrichten aus London und über die Deutschen, die Hitler zujubelten:
Sieg Heil! Sieg Heil!
, während er tobte und brüllte. Ich hatte Angst. Die Stimme dieses Mannes, sein Wesen trafen direkt ins Nervensystem, arbeiteten unterschwellig; es hatte keinen Zweck zu sagen: »Was ist mit dir los, er ist Tausende von Kilometern weit weg?«
    Da saß mein Vater, ein betrogener Mann. Alles, wovor er seit Jahren gewarnt hatte, trat nun ein. Er brauchte niemanden darauf hinzuweisen, dass er alles vorausgesagt hatte: Die Geschichte selbst sagte es an seiner Stelle. Er hatte gesagt: Passt auf, die Deutschen werden sich für Versailles rächen, und niemand hatte auf ihn und die anderen alten Soldaten gehört, niemand hörte in England jetzt auf Churchill,
der
wusste, was geboten war … Wir bezogen eine Zeitung, Stephen King Halls
Newsletter
, in der die Wahrheit zu lesen war. Aber ins Haus kamen außerdem die hetzerischen Pamphlete der Israeliten, eine für die britische Oberschicht merkwürdig attraktive Sekte, die behauptete, dass es den verlorenen Stamm Israels auf die Britischen Inseln verschlagen habe und wir deshalb das auserwählte Volk seien (die Juden? Nun, die irrten sich schlicht!), das Gott zur Weltherrschaft ausersehen habe, was wir schon durch das britische Weltreich verwirklichten. In diesen Pamphleten wurde das Armageddon angekündigt: Es werde demnächst sieben Millionen Tote um Jerusalem geben. Russland und Deutschland würden sich verbünden und als die Vertreter des Bösen gegen die Heerscharen des Herrn ins Feld ziehen – Großbritannien und Amerika, wer sonst. Ich skizziere hier nur äußerst knapp das mit erbarmungsloser Logik entworfene Credo, zu dem einem nur ein multifunktionaler Grundlagentext zu verhelfen vermag: Mit der Bibel oder Nostradamus lässt sich alles beweisen. Ich höre noch heute die nörgelnde, gereizte, besessene Stimme meines Vaters – die Stimme von Krankheit und Versagen, sehe noch heute, wie meine Mutter mit gesenktem Blick dasitzt, wie ihre Finger immerzu mit dem grauen Haar hinter ihrem Ohr spielen, der Körper steif, als unterdrückte sie ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, aus dem abgewetzten alten Stuhl zu springen und loszurennen, irgendwohin, nur fort aus dem Albtraum, in dem sie gefangen war, mit diesem täglich kränker werdenden Mann, dieser unverschämten, feindseligen Tochter und ihrem höflichen

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