Unter der Haut (German Edition)
Come
von H. G. Wells, aber es hätte auch jedes andere sein können. Ich entdeckte darin eine Ideenwelt, von der ich nicht das Geringste wusste. Rückblickend wird wahrscheinlich jedem klar, wie unbeholfen, verwirrt und orientierungslos ein Kind ist, genau wie man sieht, dass die Älteren die Not erkannten und eine helfende Hand entgegenstreckten. Jasper war offen und direkt, was meinem Erkenntnisdrang sehr zuträglich war. Er versorgte mich mit Politik- und Soziologiebüchern, die er aus England bestellte und die nie linke Thesen vertraten, denn ein Linker war er nicht. Außerdem lernte ich durch ihn die Everyman’s Library kennen. Zum ersten Mal stieß ich auf ernst zu nehmende Ansichten, etwa zur Eingeborenenfrage, von Vertretern eines aufgeklärten Eigennutzes – und nicht auf die fragwürdigen Meinungen irgendeines Querkopfes. Wenn Jasper sagte, dass die Eingeborenen anständig zu ernähren und mit Schulen und Häusern zu versorgen seien, weil die Weißen auf lange Sicht davon profitieren würden, brachte er seine Ansichten behutsam und diplomatisch vor, als wäre er eben erst selber darauf gekommen – nicht, wie ich aus Gesprächen unter vier Augen mit ihm wusste, als platzte er beinahe vor Ungeduld über die Ineffizienz des Systems. Auf diese Weise fanden aufrührerische Ideen, schon Jahre bevor sie salonfähig wurden, Eingang in dieses Haus.
Mein Pflegekind war diesmal ein Säugling von vier Monaten. Er war regelrecht mein Baby und ausgesprochen pflegeleicht. Damals setzte man Mittelstandskinder, die nicht gestillt wurden, auf Milchpulver. Es bedeutete keinen großen Aufwand, ein Fläschchen mit kochend heißem Wasser aus der Thermosflasche zu machen und in abgekochtem Wasser aus einer zweiten abkühlen zu lassen, das Kleine zu füttern und zu wickeln, während die gespülten Flaschen für die nächste Mahlzeit zum Sterilisieren in einem großen Topf auf der Herdflamme standen. Das Baby war freundlich und zufrieden. Der Kleine weinte nicht, ließ gern mit sich schmusen, schlief nachts durch und auch tagsüber viele Stunden lang. Es war nicht so, dass die Mutter ihr Baby nicht lieb hatte: Sie war stolz auf ihr Kind. Aber sie war einfach nicht mütterlich veranlagt. Und nicht häuslich. Ich verachtete sie insgeheim in meiner üblichen unnachgiebigen Art, weil ihr jedes Studium an jedem x-beliebigen Ort offengestanden hätte und sie nur keine Lust dazu gehabt hatte. Sie hatte Hauswirtschaft an einem College in Nordengland studiert und benutzte die Hefte aus ihren Kursen für die Aufstellung des Küchenplans. Sonntag: Roastbeef. Montag: Geschnetzeltes mit gerösteten Brotwürfeln. Dienstag: Rindergulasch. Mittwoch: Presskopf. Donnerstag: Rindfleisch- und Nierenpastete. Freitag: Ochsenherzragout. Samstag: Kaldaunen mit Zwiebeln. Eine weiße Hausfrau hatte es nicht sonderlich schwer. Es gab vier Dienstboten, einen Koch, einen Hausboy, einen Gärtner und den
piccanin
, den kleinen Negerjungen. Jeden Morgen wurden dem Lebensmittelhändler und dem Fleischer die Bestellungen für den Tag telefonisch durchgegeben, und wenig später erschien ein Fahrradbote, um die Sachen anzuliefern. Jasper, ein Mann, der ausgesprochen gerne aß, machte witzig gemeinte Vorschläge wie: »Vielleicht könnten wir die Reihenfolge ein bisschen auflockern – wie wär’s denn, wenn wir mal samstags Geschnetzeltes essen?« Mit ruhigem mütterlichem Lächeln wies sie seinen Vorschlag zurück: »Aber es ist so einfach, immer das Gleiche zu bestellen.«
Weder beschwerte er sich, noch hat er jemals etwas zu mir gesagt, aber irgendwie übernahm ich das Bestellen und häufig auch das Kochen, obwohl der Koch von diesen Übergriffen nicht eben begeistert war. Die Dame des Hauses saß auf ihrem Cretonnesofa und nähte mit feiner Nadel. Sie schneiderte kleine geblümte Dirndlröcke, die sie zu den bestickten ungarischen Blusen trug, die damals so billig und so beliebt waren. Sie nähte Schlüpfer und Petticoats aus edlen Stoffen wie Seide und Satin, die sie in teuren Geschäften gekauft hatte. Billige Japanseide kam ihr nicht ins Haus. »Hübsch«, sagte ihr gut aussehender Mann, wenn er sich zwischen die Stoffreste in Rosa und Mauve zu ihr setzte, und neigte den Kopf. Dann legte er ihr, mit einem bewusst neckischen Lächeln und einem flüchtigen Blick in meine Richtung, die Hand auf die Wange, sodass sie die wunderschönen Augen hob, kornblumenblau mit schwarzen Wimpern, und er tief hineinschauen konnte. »Uuuuuh!«, murmelte er.
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