Unter der Haut (German Edition)
und wir könnten die Tür zwischen unserem und ihrem Zimmer zumachen, oder?« Er küsst sie, und sie lacht, aber sie hat ihr Gesicht abgewendet und blickt über die Schulter auf ihre beiden kleinen Kinder im Bett ihrer Eltern, die sie gleich, ohne sie zu wecken, nach nebenan in ihre eigenen Betten tragen wird. Die Tür zwischen den Zimmern stand nachts immer offen, bis ich darauf bestand, dass sie geschlossen wurde.
Mein Vater war sehr krank, als er auf die Station meiner Mutter verlegt wurde. Über ein Jahr lang hütete er das Bett. Er hatte schwere Depressionen. Während dieser Zeit ging der Arzt, den meine Mutter zu heiraten hoffte, mit seinem Schiff unter. Als meine Eltern heirateten, waren beide »schwer mitgenommen« und »niedergeschlagen«. Meine Mutter wurde sofort schwanger, und die Schwangerschaft war schwer. Danach musste sie mit einem »unmöglichen« Kind fertig werden. Das alles dürfte kaum die Liebeslust angeregt haben. Und dann bekam sie ihr zweites Kind, den lang ersehnten Sohn. Ich glaube, in ihn hat sie sich verliebt. So geht es Frauen häufig. Ich habe es mehr als einmal miterlebt. Sie können ihre Männer sogar lieben, Sex und Küsse inbegriffen, und dann kommt, aus heiterem Himmel, ein Kind, ein Junge oder Mädchen, und sie verliebt sich neu – ist total vernarrt, besessen von dem Kind. Der Mann, dieses arme Wesen, was ist mit ihm? Er ist ausgeschlossen. Ich glaube, meine Mutter war in ihren kleinen Sohn verliebt, bis er »nein, nein, nein« sagte und ihr den Rücken kehrte, ein dünnes, schlaksiges, sportliches, lakonisches Kind, dem man im Internat die Gefühlskälte beigebracht hatte und das sie Em nannte, Em für Mother.
Es wäre zu einfach zu sagen, dass wir hier einen leidenschaftlichen, sensiblen Mann vor uns haben, der mit einer kalten, sentimentalen Frau verheiratet ist. Sicher war er leidenschaftlich und sie sentimental, aber ganz wohl ist mir bei der Sache nicht. Aus beiläufigen Bemerkungen von beiden schließe ich, dass Marie Stopes vielleicht eine gute Ratgeberin für Verhütungsmethoden war, aber wohl kaum eine ergiebige Informationsquelle für das Liebesleben.
Es kann für meinen Vater nicht gut gewesen sein, dass er mit ansehen musste, wie ihr der Tod des jungen Arztes das Herz brach. Oder dass über ihrem Bett zeitlebens ein unglaublich kitschiges Bild von zwei unzulänglich verhüllten aufwärtsstrebenden Seelen vor einer pastellfarbenen himmlischen Landschaft hing, mit der Unterschrift: »Was hält dich jetzt? Nicht der Tod, sondern die Liebe.«
Es kann meiner Mutter nicht geholfen haben, dass sie ihn monatelang als sehr kranken, schwer versehrten Mann gepflegt hat.
Kurz gesagt – doch genug. Ihre Leidenschaft floss den Kindern zu, seine den Träumen. Träumen von Liebe. Albträumen vom Krieg.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, verbinde ich mit einer Erinnerung. Ich lese Bernard Shaw, und er behauptet, die menschliche Rasse habe einen allzu ausgeprägten Sexualtrieb. Ich muss älter als vierzehn sein, denn ich bin mir ständig meines wunderbaren Körpers bewusst, der mir wie ein neues lang ersehntes Kleid passt. Ich bin empört. Ich bin wütend. Ich fühle mich bedroht. Doch zugleich merke ich, dass meine Reaktionen maßlos sind. Ich hatte das Gefühl, Shaw wollte mir etwas nehmen, auf das ich ein Recht hatte. Gut, so waren die Zeiten eben, der Zeitgeist in Reinkultur. Keiner hatte mir Sex oder Liebe als ein
Recht
, als etwas, das mir zustand, versprochen. Und doch hatte ich bereits begonnen, dieses Recht für mich zu beanspruchen. Woher war dieser Wind geweht? Von wem ging das aus? Mein Leben lang, bis vor kurzem, als Aids dem ein Ende setzte, habe ich Sex, zumal guten Sex, als ein Recht empfunden – ein Recht für alle. Aber wie bin ich darauf gekommen?
Ein Freund von mir, ein Historiker, weise und gelehrt, hat einmal zu mir gesagt: »Das Problem mit euch (er meinte den Westen) ist, dass ihr alles durch die Brille von Sex und Politik betrachtet. Das sind eure Imperative. Und das verwehrt euch, unter anderem, ein tiefes Verständnis der Vergangenheit, als die Menschen noch ganz andere Prioritäten hatten.«
Kapitel Zehn
Und nun folgte ein plötzlicher Kurswechsel, vergleichbar mit denen, als ich meinen Glauben aufgegeben, die Schule verlassen, von zu Hause weggegangen war, um Kindermädchen zu werden. Ich kehrte heim, um einen Roman zu schreiben. Solche Veränderungen oder Wandlungen geschehen nicht plötzlich, sie sind das Ergebnis eines
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