Unter der Haut (German Edition)
war er? Er war krank, weil er die Geburt in seiner Fantasie mit durchlitten hatte, und war eingeschlafen, nachdem man ihm mitgeteilt hatte, dass ich gesund und munter sei.
Wahrscheinlich hat mir diese »gute« Geburt wohlgetan, aber das eigentlich bis heute Wichtige an dem Erlebnis für mich war die Enthüllung der verschiedenen in mir wirkenden Persönlichkeiten. Zumindest eine davon musste authentisch und nicht ausgedacht sein, weil sie unerwartet deutlich wurde. Während der ganzen Zeit, also stundenlang, lief vor meinem geistigen Auge eine Filmvorführung mit wunderschönen, eleganten Kleidern ab, als ob man einen Teil von mir, der sich als Modedesignerin fühlte, gewähren ließe. Die Kleider wurden nicht von mir, sondern von Mannequins vorgeführt: Ich habe nie solche Gewänder getragen. Die andere Person, oder Persönlichkeit, war ein schluchzendes Kind. Ich weinte und weinte, zur großen Sorge meiner Freunde, aber ich wusste, dass die Tränen nicht wichtig waren. Ich weine zu selten, das war schon immer so, und es war ein Geschenk, hemmungslos weinen zu können. Ich hätte die arme Kleine ohne Weiteres in meinen Armen wiegen und trösten können, wenn mich die gleichzeitig stattfindende Parade der wunderbaren Kleider und das freundlich beschützende Geplauder der Gastgeberin nicht so fasziniert hätten.
Dieses weinende Kind … das ist der wahre Feind. Es verwandelt sich in tausend Schwindler, die sich selbst bemitleiden, die nach mir grapschen und sich festsaugen, und wenn ich einen langen Schlingarm abschneide, taucht gleich der nächste auf, immer dort, wo ich am wenigsten mit ihm rechne.
Die Intensität der Sinneswahrnehmungen, die durch die Einnahme von Drogen hervorgerufen wird, erinnert mich an die Art, wie kleine Kinder Schmecken, Fühlen und Riechen erleben. Als die Wirkung der Droge abklang, gingen meine Freunde mit mir in ein Restaurant, und mir fiel wieder ein, wie mir als Kind das Essen geschmeckt hatte. Das Omelett zerfiel auf meiner Zunge in hundert Nuancen aus Butter, Ei und Kräutern. Schon damals, in der Mitte meines Lebens – ich war über vierzig –, hatte mein Geschmackssinn viel von seiner Feinheit eingebüßt. Wir alle fürchten uns vor dem Alter, weil wir weniger Freuden empfinden werden, wenn wir irgendwann ohne Geschmackssinn sind. Dabei geschieht das in einem langsamen, unmerklichen Prozess, der das ganze Leben andauert. Einem kleinen Kind schmeckt ein Omelett vollkommen anders als einem Erwachsenen. Hitze bereitet einem Kind Atemnot und brennt auf der Haut, macht Arme und Beine schlaff. Kälte beißt wie Eiswasser. Gerüche bewirken, dass sich die Nase vor dem Genuss weitet oder vor Ekel zusammenzieht. Geräusche, Klänge dringen laut, drängend, drohend ins innere Ohr:
Hör mir zu.
Kinder und Erwachsene leben nicht in der gleichen Sinneswelt.
Ich erinnere mich nicht wirklich daran, sondern weiß nur aus Erzählungen, dass das Klima in Kermanschah alle Extreme kannte. Es wurde sehr heiß. Es wurde sehr kalt. Es war fast immer sehr trocken. »Die Luft war so trocken, dass die Diener das Schmutzwasser hinter dem Haus auf die Erde schütteten, und mittags war wieder alles nur Staub.« »In Kermanschah hängte man die Wäsche in aller Herrgottsfrühe auf, und um zehn war sie knochentrocken.«
Im Haus lebten drei Erwachsene, die persischen Diener nicht mitgezählt. Der dritte war ein befreundeter Amerikaner, der mit Öl zu tun hatte. Viele Jahre lang wunderte ich mich, warum amerikanische Männerstimmen so verführerisch und einschmeichelnd waren, warum sie trösteten und mehr verhießen, als jede vernünftige Frau glauben kann. Bis ich endlich auf die offensichtliche Erklärung stieß und wieder einmal gegen meinen eigenen Widerstand akzeptieren musste, dass unser Leben von Stimmen, Zärtlichkeiten und Drohungen beherrscht wird, an die wir keine Erinnerung haben.
Eine vierte, unzweifelhaft als echt belegte Erinnerung betrifft die Reise von Kermanschah nach Teheran im Auto. Damals waren Autos in Persien selten. Wir fuhren durch die Berge über Straßen, die für Karawanen, Pferde, Maultiere, Esel gebaut waren. Wir hatten ein Auto mit offenem Verdeck. Ich schaute seitlich hinaus, hielt mich am groben Verdeckstoff fest und sah über Felsklippen hinunter in Täler, die nichts als Stein waren. Ein steinerner Abgrund tat es mir besonders an, an seinem Rand stand ein Dorf, klein wie eines meiner Spielzeuge. Ich würde dieses Tal noch heute wiedererkennen, weil die Angst es mir
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