Unter der Haut (German Edition)
unauslöschlich eingeprägt hat. Das Auto quälte sich über die schmale Piste, die sich um den Berg schlängelte, die Räder am Rand des Abgrunds. Dann versperrte ein Felsvorsprung den Weg. Die Erwachsenen kletterten unter Mühen aus dem Auto, denn Mutter war hochschwanger, und Vater musste sein sperriges Holzbein hinausbugsieren. Ich wurde über das aufgerollte Verdeck am Heck hinausgereicht und stellte mich hinter die schützenden Beine meines Vaters, einen Arm um ein warmes Menschenbein, den andern um hartes Holz, und blickte durch die Beine nach unten. Unterdessen steuerte der Fahrer (wer?) das Auto weiter vor, ein Rad auf der bröckelnden Außenkante der Piste. Er fuhr, so schien es mir, geradewegs in die Luft … Die Angst, als ich dem Auto nachschaute. Würde es über den Rand fahren und den Berg hinunterrollen? Direkt über uns schwebte ein Adler, der groß genug war, sich ein Kind zu greifen, und sah mich an. »Papa, Papa, schau mal, der Vogel«, aber der Vogel flog nicht mit mir davon, und das Auto stürzte nicht ab, denn als Nächstes waren wir in unserem englischen Kinderzimmer in Teheran, in dem alsbald mein Bruder zur Welt kam.
Meine Mutter hatte vor, uns nach den liebevollen Prinzipien Montessoris zu erziehen, aber einstweilen herrschte in den Kinderstuben von Kermanschah und Teheran die harte Disziplin eines gewissen Doktor Truby King. Er war ein Neuseeländer, dessen Buch für unzählige Eltern Gesetz war und dessen Einfluss immer noch in den Stimmen älterer Kindermädchen durchklingt. »Was dir fehlt, ist Disziplin – ohne geht es nicht.« Truby King war die Fortführung der kalten, harten Erziehung, die meiner Mutter und meinem Vater die Kindheit so schwer gemacht hatte. Ich bin sicher, dass ihr das nie bewusst geworden ist. Sie tat nur, was alle guten Eltern taten. Es ist schmerzvoll, diesen Ratgeber für glückliche Familienbeziehungen auch nur zu lesen.
Nehmen wir zum Beispiel die Ernährung. Ein Säugling sollte alle zwei Stunden zu trinken bekommen und dann alle drei Stunden, Tag und Nacht, wobei Ziel und Krönung dieser Abfütterung nach der Uhr das Erreichen eines Vier- oder Dreistundentakts mit fünf oder sechs Mahlzeiten am Tag war und man das Baby zwischendurch seinem Schreien zu überlassen hatte, weil sonst alles nach seiner Pfeife tanzte, das Baby zum Herrn im Haus, sein Charakter fürs Leben verdorben, das Kind verwöhnt, verweichlicht, maßlos würde und vor allem der Mutter das Heft aus der Hand nähme. Das Kind durfte zwischen den Mahlzeiten nicht hochgenommen werden. Das Kind musste von Anfang an lernen, was was war und wer das Sagen hatte, und zwar allein in seinem Bett, in seinem eigenen Zimmer, niemals im Schlafzimmer der Eltern. Die kleinen Jungen und Mädchen mussten lernen, wo sie hingehörten, ihren Stand in der Welt begreifen – allein.
In meinem Fall, wie meine Mutter mir immer wieder fröhlich erzählte, hat man mich die ersten zehn Monate hungern lassen, da sie, noch entkräftet vom Krieg, keine Milch hatte und mir nach englischer Vorschrift verdünnte Kuhmilch zu trinken gab, obwohl die Milch persischer Kühe nur halb so viele Nährstoffe enthielt wie die Kuhmilch in England. »Du hast geschrien und geschrien, Tag und Nacht.«
Mag sein, aber auf den Fotos sehe ich nicht aus wie ein Knochengerippe. Ich wirke ziemlich rund und fröhlich. Warum musste meine Mutter ihrer kleinen Tochter so oft und so vergnügt erzählen, dass sie als Säugling von ihrer Mutter nicht genug zu essen bekommen hatte? Ich glaube, daran ist ihr Sinn für Dramatik schuld. Mich – und auch meinen Vater – hat es früher auf die Palme getrieben, dass sie immer aus allem ein Drama machen musste. Ich fand es dabei weniger schlimm, dass sie alles dramatisch darstellte, als dass sie es offensichtlich selbst nicht bemerkte. Aber bleiben wir bei ihrer Version: Wenn ich als Baby ständig hungrig war, so hat mir das anscheinend nicht sehr geschadet.
Nun zur Sauberkeitserziehung, dem Schlüssel zur Charakterbildung schlechthin. Ob Sie es glauben oder nicht, es wurde offiziell empfohlen, das Kind von Geburt an täglich zu festgelegten Zeiten über das Töpfchen zu halten. »Du warst schon mit einem Monat sauber!« Glaube ich das? Nein, aber der Triumph in ihrer Stimme verriet, dass sie über weit mehr gesiegt hatte als den Stuhlgang eines Säuglings. Reinlichkeit kommt gleich nach Frömmigkeit. (Ähnlich steht es auch im Koran.) Ein kleines Baby hat keine Kontrolle über seine
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