Unter der Haut (German Edition)
Körperfunktionen. Aber wenn man einen Säugling mit ermunternden Worten über das Töpfchen hält, ihn zur Erinnerung fest an den kalten Rand drückt, Wasser aus einem Krug plätschernd in ein Becken gießt und dem Baby die ganze Zeit sanft den Bauch streichelt, dann wird es einem wohl den Gefallen tun. Stellen Sie sich das vor, von einem Ende des britischen Weltreichs zum andern, überall, wo die Weltkarte rosa gefärbt war, britische Mütter oder ihre Kindermädchen, die winzige Babys auf diese Weise über das Töpfchen hielten.
Man sollte meinen, dass ich dadurch sauberkeits- und ordnungsbesessen geworden wäre. Nein, ich bin unordentlich, halte Unordnung gut aus, habe aber kleine, nützliche Obsessionen wie das Tagebuchschreiben.
Meine lebhafteste Erinnerung aus dieser frühen Zeit ist nicht die Geburt meines Bruders selbst, sondern wie mir das Baby zum ersten Mal gezeigt wurde. Ich war zweieinhalb Jahre alt. Der riesige Raum im Lampenlicht, die Decke voller Schatten und weit, weit oben das riesige Bett, so hoch wie ich, auf dem mein Vater lag, denn er war wieder einmal krank: Heutzutage würde man frotzelnd von »Männerkindbett« sprechen. Frauen wurde nahegelegt, nach der Geburt mindestens einen Monat das Bett zu hüten, lieber noch sechs Wochen, die ganze Zeit von der Taille bis zu den Knien in steifes Leinen gewickelt. Es ist kaum anzunehmen, dass sich meine energische Mutter darauf einließ. Und so stand sie an einer riesigen Wiege, über der sich weiße Musselinvolants mit Pünktchenmuster üppig bauschten. Ich reichte mit dem Kopf nicht bis hinauf, und sie beugte sich daran vorbei zu mir herunter und sagte eindringlich: »Es ist dein Baby, Doris, und du musst es lieb haben.« Aus den Tiefen der weißen Volants holte sie ein fest gewickeltes Kind und drückte es mir so an den Bauch, dass ich, wenn ich dumm gewesen wäre, hätte glauben können, dass ich es selbst in den Armen hielt. An das Baby erinnere ich mich nicht. Ich platzte vor Wut. Es war nicht mein Baby. Es war ihr Baby. Aber noch heute kann ich die eindringliche Lügenstimme hören, die unablässig auf mich einredete und nicht verstummte, bis ich nachgab. Die Macht meines rebellischen Zorns, der noch jetzt in mir brennt, zeigt mir, dass es keinesfalls das erste Mal war, dass mir mit verlogenen Worten gesagt wurde, was ich zu fühlen hätte. Denn es war nicht mein Baby. Offensichtlich nicht. Wahrscheinlich stand bei Truby King oder sogar Montessori, man solle das größere, enteignete Kind zur Liebe überlisten und auf diese Weise geschickt die Eifersucht überwinden. Ich habe meine Mutter dafür gehasst. Zutiefst gehasst. Aber ich war hilflos. Das Baby liebte ich. Ich hing mit leidenschaftlicher, beschützender Liebe an ihm, dann am Krabbelkind und später an dem kleinen Jungen. Meine Erinnerung daran ist nicht nur authentisch, sie ist nach dieser langen Zeit in allen Details präsent und leicht abrufbar. Dieses Erlebnis und weitere der gleichen Art haben mein Leben für immer geprägt.
All you need is love.
Du brauchst nichts als Liebe. Ein Kind sollte mit Liebe erzogen werden, wie meine Mutter so oft sagte, wenn sie uns ihre Erziehungsmethoden erläuterte. Sie hatte als Kind keine Liebe erfahren und sorgte nun dafür, dass wir nicht ähnlich leer ausgingen. Das Problem ist nur, dass Liebe ein Wort ist, das sich erst durch die Erfahrung von Liebe mit Bedeutung füllt. In meiner Erinnerung finde ich nur hart zupackende Hände, ungeduldige Arme und ihre Stimme, die mir wieder und wieder sagt, dass sie sich kein Mädchen gewünscht habe, sondern einen Jungen. Ich wusste von Anfang an, dass sie meinen kleinen Bruder bedingungslos liebte, und mich nicht.
Jedenfalls hat mich meine frühe Kindheit zu einer wandelnden Wunde gemacht, jahrelang. Eine dramatische, eigentlich ziemlich geschmacklose Aussage, aber ich verfolge damit eine ganz bestimmte Absicht, auch wenn sie mich zu einem leichten Opfer der Fanatiker macht, die allenthalben Beweise für »Missbrauch« sehen. Sie meinen für gewöhnlich sexuellen Missbrauch. Wenn man entgegnet, man sei aber gar nicht missbraucht worden, setzen sie sogleich das besserwisserische Lächeln einer gewissen Sorte von Analytikern auf. Aber alle diese hysterischen Massenbewegungen wälzen sich über uns hinweg, vergehen, verwandeln sich in etwas Neues. Vielleicht sogar in eine Disziplin, die sich nicht mit sexuellem Kindesmissbrauch beschäftigt (der meiner Ansicht nach nicht so häufig ist, wie manche Leute
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