Unter der Haut (German Edition)
glauben möchten), sondern mit den emotionalen Verletzungen, die fast alle Menschen in ihrer Kindheit erleben und von denen ihr Dasein geprägt wird. Meines Erachtens sind einige psychologische Druckmittel, selbst die gut gemeinten, genauso schädlich wie körperliche Verletzungen. Wie auch immer, ich habe mein Leben lang Leute verstanden, mich mit Leuten wohlgefühlt und zeitweise mit Leuten zusammengelebt, die eine schreckliche Kindheit hinter sich hatten (beinahe hätte ich geschrieben, die übliche schreckliche Kindheit). Sie sind adoptiert und dann vernachlässigt worden, haben in Heimen oder Waisenhäusern gelebt, mussten in den grausamen Machtspielen ihrer Eltern als Verhandlungsobjekte herhalten, sind zu jung auf unmenschliche oder kalte Schulen geschickt worden – da kommen wir der Sache vielleicht schon näher, wobei es sich allerdings um eine späte und keine ursprüngliche Verletzung handelt. All diese Leute haben sich nach einer panischen Flucht von zu Hause oder einem Zusammenbruch selbst wiederaufgebaut. Jahrelang hatte ich fast nur Freunde, die sich ihre eigenen Familien geschaffen haben. Das war damals nicht so üblich wie heute. Auf der Welt herrschen so viele Kriege, Bürgerkriege, Hungersnöte, Seuchen, dass Millionen von Menschen heimat- und obdachlos aufwachsen. Sie schaffen sich ihre Familien selbst. In jedem von ihnen gibt es eine Stelle, groß oder klein, die emotionales Ödland ist.
Doch meine Mutter war gewissenhaft und fleißig und tat aus ihrer Sicht immer das Beste. Sie war ein guter Mensch, eine gute Kameradin. Nie hat sie ein Kind geschlagen oder geohrfeigt. Sie redete viel von Liebe. Die Zärtlichkeit, die man ihr nie beigebracht hatte, drückte sich in übermäßiger Sorge aus – und im Falle meines Bruders, indem sie ihn verzärtelte, damit sie ihn pflegen konnte; in meinem Fall, indem sie mich tatsächlich eine Zeit lang zur Kranken machte.
Mein Vater war liebevoll, aber nicht zärtlich. Beide Elternteile zeigten ungern Gefühle. Wenn die Tochter meiner Mutter genauso gewesen wäre wie sie, aus dem gleichen Stoff, dann wäre alles gut gegangen. Aber zu ihrem Unglück hatte sie ein übersensibles, ständig beobachtendes und beurteilendes, kämpferisches, für alle Eindrücke empfängliches, liebeshungriges Kind. Dem nicht eine, sondern mehrere Hautschichten fehlten.
Das Kinderzimmer in Teheran war englisch, im edwardianischen Stil; es hätte genauso gut in London sein können. Ein riesiger Raum, quadratisch, hoch, wie ein Lagerraum mit schweren Möbeln vollgestopft. In einer Wand brennt ein heißes und fröhliches Feuer, das ein Messinggitter von dem Zimmer und den neugierigen Kindern abschirmt. Auf den Messingstangen hängen gefaltete, gebügelte Kindersachen und Windeln zum Auslüften. Ein hölzerner Klappständer ist vollgehängt mit wattierten Tüchern, Einlagen, Wickeltüchern – und wieder Lätzchen, Windeln, Hemdchen, Verbände, Pullis, Babykleidchen, Mädchenkleider, Socken, Mützen, Jacken, Schals. Wie eine Mauer schirmen diese Sachen eine Seite des Zimmers vollkommen ab, und dahinter sind eingebaute Schränke, prall gefüllt mit Stapeln von Jacken, Kleidern und Unterröcken aus Wolle und Batist, Schleierstoff und Seide, Baumwolle und Flanell. Hunderte davon, Dutzende von jeder Sorte. Es ist die Ausrüstung, die für zwei winzige Kinder benötigt wird, die tief unten zwischen den schweren Stühlen und einem gerüstartigen Hochstühlchen auf ihren Töpfchen sitzen. Die Luft in dem Zimmer ist von Gerüchen erfüllt. Die leicht angesengt riechenden, frisch gebügelten Sachen, Vaseline, Brustbalsam, Lebertran, Mandelöl, Kampfer, Pear’s Seife, der in der Nase stechende Kupfergeruch von Krug und Schüssel auf dem Waschtisch, der stickige Geruch der Flammen, Paraffin vom kleinen Herd, auf dem die Fläschchen und die Milch heiß gemacht werden, der stinkende Inhalt der beiden Töpfchen, die von den kleinen Popos nur ein Stück weit zugedeckt sind. Schwere Vorhänge binden den Staub, die Musselingardinen dahinter riechen nach Waschmittel, und das Holz riecht nach Möbelpolitur. Die Gardinen sind mit Schäferinnen und Lämmern in Blau und Rosa gemustert, sonst ist alles, aber auch alles weiß. Stickiges, übel riechendes Weiß, an dem man fast erstickt.
Zuerst hebt das kleine Mädchen und dann das Baby, das ihm stets alles nachmacht, seinen Popo vom Töpfchen, und die Frauen im Zimmer staunen und gurren: »Brav, Harry,
guter
kleiner Baba; brav, Doris,
gute
kleine
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