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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Schweiß – Vaters Geruch hüllte sie in Sicherheit.
    Als ich die
Memoiren einer Überlebenden
schrieb, versah ich sie mit dem Untertitel »Der Versuch einer Autobiografie«, aber niemand nahm davon Notiz. Ausländische Verlage ließen ihn schlicht weg, und als die englische Neuauflage herauskam, dachte keiner mehr daran, ihn aufzunehmen. Er schien den Leuten peinlich zu sein. Sie verstünden ihn nicht, sagten sie. Seit Abertausend Jahren erzählen wir – die Menschen – uns Geschichten, und immer waren das Analogien und Metaphern, Parabeln und Allegorien; sie waren schwer fassbar und mehrdeutig, sie arbeiteten mit Andeutungen und Anspielungen. Doch nach drei Jahrhunderten realistischer Romantradition ist bei vielen Menschen dieser Teil des Gehirns verkümmert.
    Mir erscheint nichts einfacher als der Aufbau dieses Romans. Ein Mensch mittleren Alters – das Geschlecht tut nichts zur Sache – beobachtet, wie eine junge Persönlichkeit heranwächst. Es geht allgemein bergab, wie zu meiner Lebenszeit. Wellen der Gewalt, getragen von Banden junger, anarchischer Menschen, breiten sich aus, ebben ab und vergehen. Das sind die Kriege und Phänomene wie Hitler, Mussolini, der Kommunismus, die Vorherrschaft der Weißen, brutale ideologische Systeme, die eine Zeit lang unbezwingbar wirken und dann zusammenbrechen. Mittlerweile jedoch gehen hinter einer Mauer andere Dinge vor. Die fallende Mauer ist ein uraltes Symbol, vielleicht das älteste, und wenn man sich eine Geschichte ausdenkt und ein Symbol oder eine Analogie braucht, ist es immer am besten, zum Ältesten und Vertrautesten zu greifen. Denn das wohnt bereits im menschlichen Geist, ist ein Archetypus und führt mühelos aus der Tagwelt in jene andere. Hinter meiner Wand trieben zwei Arten der Erinnerung ihr Spiel, wie regelmäßig wiederkehrende Träume. Zum einen die allgemeinen, wenn Sie so wollen, kollektiven Träume, die vielen gemeinsam sind, wie der Traum vom Haus, das man gut kennt, wo man aber plötzlich leere Zimmer oder nie gesehene Stockwerke oder sogar Anbauten entdeckt, die man bisher nie wahrgenommen hat, oder der Traum von den Gärten, die in immer neue Gärten übergehen, oder den Landschaften, die man ebenfalls im Leben nie gesehen hat. Dazu dann die individuellen Erinnerungen, individuellen Träume. Etliche Jahre hatte mich die Frage bewegt, ob es mir gelingen würde, ein Buch zu schreiben, eine persönliche Geschichte, die anhand von Träumen erzählt wird, denn ich behalte meine Träume gut und habe sie mir bisweilen aufgeschrieben. Graham Greene hat einmal etwas Ähnliches versucht. Aus dieser Idee zu einer Traumautobiografie entstand in
Memoiren einer Überlebenden
die Welt hinter der Mauer. Ich benutzte das Kinderzimmer in Teheran und meine Eltern, beide stark vergrößert und überzeichnet, wie es der Traumwelt angemessen ist. Ich wählte den Aspekt meiner Mutter, den sie selbst mit den Worten beschrieb: »Ich habe mich für meine Kinder aufgeopfert.« Damals fanden Frauen nichts dabei, so etwas zu sagen, heutzutage haben die meisten ein paar psychologische Grundkenntnisse. Sie war die frustrierte, unzufriedene Frau, der ich zuerst in der Person meiner Mutter begegnet bin, später aber häufig in meinem Leben, manchmal in Gestalt einer Freundin. Diese Frau redet unablässig davon, welche Last die Kinder für sie sind, wie sie sie fertigmachen, wie unausgefüllt sie ist und wie wenig sie gewürdigt wird, was niemand außer einer Mutter verstehen kann, wie viel von ihrer Kraft sie in ihre undankbaren Kinder stecken muss, die ihr die kostbaren Talente und den Lebenssaft aussaugen wie nimmersatte Schwämme.
    Das Schlimme daran ist, dass so in Gegenwart der Kinder geredet wird, als wären sie nicht da und könnten nicht hören, wie die eigene Mutter in die Welt hinausposaunt, was für eine Last ihre Kinder sind, was für eine Enttäuschung, wie sie an ihr zehren. Ich muss nicht lange nach Erinnerungen von »Missbrauch« und Brutalität suchen. Sehr gut entsinne ich mich – obwohl ich nicht mehr weiß, wie alt ich da war –, dass ich, bei meinem Vater ans Knie gelehnt, dasaß, an das richtige, nicht an das aus Holz und Metall, während meine Mutter irgendeinem Gast im freundlichen Plauderton endlos von ihren Kindern erzählte, wie sie von ihnen ausgelaugt werde, wie ihre Talente brachlägen und verwelkten, wie vor allem das kleine Mädchen (das ja so schwierig sei, so ungezogen) ihr das Leben zur Hölle mache. Und ich empfand nichts als

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